In einer Zeit, in der Innovation und Effizienz über den Erfolg junger Unternehmen entscheiden, haben wir von StartupValley mit Marius Müller-Minde, Head of Enterprise New Business bei Amazon Web Services, über Chancen, Herausforderungen und Zukunftsperspektiven gesprochen.
Wie verändert KI aktuell die Startup-Landschaft? Welche neuen Möglichkeiten ergeben sich für junge Unternehmen?
Einen guten Einblick ergeben die Zahlen der German AI Startup Landscape 2024: Mit 687 KI-Startups in Deutschland und einem Wachstum von 35 Prozent gegenüber dem Vorjahr zeigt sich eine dynamischere Entwicklung im Vergleich zu klassischen Gründungen. Besonders bemerkenswert ist die Effizienzsteigerung durch KI, denn viele deutsche Startups, die KI einsetzen, verzeichnen eine direkte Wertsteigerung ihres Unternehmens.
Die neue Technologie ermöglicht es jungen Unternehmen, schneller zu wachsen und mit deutlich kleineren Teams wettbewerbsfähige Produkte zu entwickeln. Gleichzeitig eröffnet die Technologie völlig neue Geschäftsfelder in nahezu allen Branchen. Der zweite Teil des Reports „Unlocking Europe’s AI Potential“ von AWS belegt, dass bereits 68 Prozent der deutschen Startups aktiv KI-Lösungen nutzen und weitere 18 Prozent in der Experimentierphase sind – eine Adoptionsrate, die den Branchendurchschnitt deutlich übertrifft.
Ein wesentlicher Treiber dieser Entwicklung ist der demokratisierte Zugang zu KI-Technologien durch Cloud Computing. Auch kleinere Teams können heute ohne hohe Anfangsinvestitionen auf modernste KI-Tools zugreifen. Die Cloud reduziert die Einstiegshürden erheblich und bietet die nötige Flexibilität, um mit dem Unternehmenswachstum Schritt zu halten. Diese Flexibilität zahlt sich aus: Startups können heute mit kleineren Teams wettbewerbsfähige Produkte entwickeln und schneller skalieren.
Viele Startups setzen auf Generative AI. In welchen Bereichen siehst du das größte Potenzial – und wo liegen die Grenzen?
Besonders vielversprechend sind derzeit industriespezifische Lösungen für die Fertigung, die Logistik und das Gesundheitswesen. Das gilt auch für Anwendungen in den Bereichen Accounting und ERP (Enterprise Resource Planning). Startups profitieren stark von einer engen Vernetzung mit dem Mittelstand in diesen Branchen. Grundsätzlich gilt das aber für alle B2B-Bereiche. Anwendungen lassen sich überall durch die Integration von generativen KI-Modellen in bestehende Workflows optimieren. Hier geht es vor allem um den konkreten Mehrwert für Kunden.
Die Herausforderungen für Startups liegen derzeit in mehreren Bereichen: Die Integration von KI in bestehende Unternehmensstrukturen erfordert ein tiefes Verständnis für Governance und Compliance. Ein konkretes Beispiel sind Halluzinationen in KI-Modellen. Dabei erfindet die KI Informationen ohne faktische Grundlage, weswegen besonders zuverlässige Prüfmechanismen zur Verhinderung von Fehlern erforderlich sind. Viele Unternehmen stehen vor der Aufgabe, angemessene Schutzmaßnahmen zu implementieren, wenn sie KI-Technologien in kundennahen Bereichen einsetzen möchten. Startups müssen aber auch technisch überzeugende und ethisch verantwortungsvolle Lösungen entwickeln, um Kunden sowie Investoren langfristig zu überzeugen.
AWS bietet mit Programmen wie Activate, dem Generative AI Accelerator und der GenAI Loft Tour gezielte Unterstützung. Welche Herausforderungen haben Gründerinnen und Gründer bei der Integration von KI – und wie helft ihr konkret?
Die Integration von KI stellt Startups vor mehrere Herausforderungen – von der Auswahl der richtigen Modelle über die effiziente Implementierung bis hin zur Kostenoptimierung. Viele Startups verfügen nicht über das technische Know-how oder die finanziellen Ressourcen, um diese Hürden allein zu überwinden. Wir unterstützen junge Unternehmen bei technischen Fragen zur Implementierung, bieten kosteneffizienten Zugang zu modernsten KI-Modellen durch AWS Activate und stellen Expertise für die Optimierung von KI-Architekturen bereit. Darüber hinaus bringen wir Know-how beim Aufbau von Startups ein und teilen unsere Branchenexpertise – von der Entwicklung tragfähiger Geschäftsmodelle bis hin zu bewährten Go-To-Market-Strategien.
So veranstalteten wir etwa mit dem AWS GenAI Loft in Berlin ein Event für Startups, Entwickler und Investoren, das sich ganz um KI drehte. Das Event bot eine Mischung aus praxisnahen Workshops, technischen Deep Dives und Networking-Möglichkeiten mit Experten von AWS, NVIDIA und anderen Partnern. Zusätzlich haben wir zuletzt 230 Millionen US-Dollar für Startups zugesagt, die die Entwicklung generativer KI aktiv vorantreiben, etwa durch die Entwicklung von Grundlagenmodellen oder KI-Tools. Und der Generative AI Accelerator, ein zehnwöchiges Förderprogramm für 80 Startups weltweit, bietet maßgeschneiderte Go-to-Market-Strategien. Aus Europa nahmen beispielsweise die Münchner Daten-Experten von DQC, die Spezialisten für Networking ETHOS AI aus England und das französische Biotechnologie-Startup Phagos teil.
Rechenleistung und Skalierbarkeit sind entscheidende Faktoren für KI-Startups. Wie stellt AWS sicher, dass auch junge Unternehmen Zugang zu den nötigen Ressourcen haben?
Zunächst einmal ermöglicht die Cloud den KI-Einstieg ohne hohe Anfangsinvestitionen in Hardware oder tiefe IT-Kenntnisse. Startups zahlen nur für die tatsächlich genutzten Ressourcen und können diese mit ihrem Wachstum skalieren. Dabei können sie mit unterschiedlichen KI-Modellen experimentieren, um das optimale Setup für ihren Use Case zu finden.
Mit AWS Activate bieten wir zudem ein Programm für ausgewählte Startups, mit dem diese umfangreiche Gutschriften für die Nutzung von AWS Services erhalten, um ihre Idee umzusetzen. Ein Beispiel dafür ist das Startup CareMates, das eine KI-Lösung für den Pflegebereich entwickelt hat. Das Team schuf mit AWS Technologien eine innovative Lösung, die den administrativen Aufwand bei der Patientenaufnahme um bis zu 80 Prozent reduziert. So haben Pflegekräfte mehr Zeit für die direkte Versorgung der Patienten.
Darüber hinaus stellen wir Startups technisches Know-how zur Verfügung. Die AWS Solutions Architects helfen dabei, KI-Architekturen zu optimieren und die effizientesten Wege zur Nutzung von Cloud-Ressourcen zu finden. Für spezifische KI-Anwendungsfälle bieten wir außerdem vorgefertigte Lösungen wie Amazon Bedrock. Wir haben zudem erkannt, dass der Aufbau einer KI-Infrastruktur nicht nur eine technische, sondern auch eine strategische Herausforderung darstellt. Deshalb bieten wir im Rahmen unserer Programme wie dem GenAI Accelerator auch Unterstützung bei der Entwicklung tragfähiger Geschäftsmodelle und erfolgversprechender Go-to-Market-Strategien.
Cloud-Plattformen ermöglichen den schnellen Zugang zu KI-Tools, doch auch Kosten und Datensicherheit sind zentrale Themen. Welche Rolle spielt effiziente Ressourcennutzung für Startups?
Bei der Skalierung von Ressourcen ist eine effiziente Kostenstruktur wichtig, um die Wirtschaftlichkeit der KI-Anwendungen langfristig zu sichern. Es haben sich jedoch ein paar Methoden als besonders hilfreich erwiesen, um die richtige Balance zwischen Leistungsfähigkeit, Kosten und Nutzerfreundlichkeit zu finden. Beispielsweise lässt sich durch eine sorgfältige Auswahl eines KI-Modells viel erreichen. Kleinere Modelle sind oft günstiger und reagieren mit kürzerer Antwortzeit.
Auch Prompt-Caching kann helfen: Dabei werden feste Teile häufiger Prompts in der Inferenz-Hardware zwischengespeichert, sodass nur die variablen, nutzerspezifischen Daten bei jeder Anfrage übermittelt werden müssen.
Ebenso hat sich die sogenannte Model Distillation in Amazon Bedrock bewährt. Bei diesem AWS Service wird das Wissen eines großen, leistungsstarken KI-Modells auf ein kleineres, schnelleres übertragen. Das Ergebnis ist ein kompakteres Modell, das im jeweiligen Anwendungsfall ähnlich gute Ergebnisse wie das große Modell liefert, aber deutlich schneller und kostengünstiger arbeitet. Destillierte Modelle können bis zu fünfmal schneller arbeiten und die Kosten um bis zu 75 Prozent senken – bei einem Genauigkeitsverlust von weniger als zwei Prozent.
Startups stehen oft vor der Wahl zwischen Open-Source-KI-Modellen und proprietären Lösungen großer Anbieter. Welche Strategie ist aus deiner Sicht langfristig nachhaltiger?
Die Entscheidung zwischen Open-Source-KI-Modellen und proprietären Lösungen sollte nicht als Entweder-oder betrachtet werden. Eher sollten Startups immer wieder pragmatisch abwägen – je nach Entwicklungsphase und ihren Anforderungen. Mit der zunehmenden Verbreitung von generativer KI und Grundlagenmodellen verschiebt sich zudem der Fokus der Startups. Statt selbst leistungsstarke KI-Modelle von Grund auf zu entwickeln, können junge Unternehmen über die Cloud auf verschiedene leistungsstarke Modelle zugreifen und diese für ihre individuellen Anforderungen anpassen. Die rasante Entwicklung am Markt verlangt dabei nach Lösungen, mit denen sich stets die neuesten Modelle effizient nutzen lassen, ohne die Gesamtarchitektur grundlegend ändern zu müssen.
Ein pragmatischer Ansatz könnte wie folgt aussehen: In frühen Phasen nutzen Startups proprietäre Modelle über APIs, um schnell Prototypen zu entwickeln und ihre Marktfähigkeit zu testen. Dies reduziert den anfänglichen Entwicklungsaufwand erheblich. Mit zunehmender Reife können Startups dann in bestimmten Bereichen auf Open-Source-Modelle umsteigen, diese spezialisieren und an ihre Bedürfnisse anpassen.
Das größte Potenzial bietet jedoch die Konzentration auf den tatsächlichen Mehrwert für Kunden. Unabhängig von der technischen Basis ist entscheidend, wie nahtlos KI-Lösungen in bestehende Arbeitsprozesse integriert werden und welchen konkreten Nutzen sie bringen. Ein Beispiel dafür ist die Integration von KI in Business-Process-Management-Systeme wie Camunda. Damit lassen sich Geschäftsprozesse visualisieren, automatisieren und optimieren. Ähnlich wie bei SaaS-Modellen geht es darum, eine intuitive Benutzeroberfläche und ein klares Nutzenversprechen für eine definierte Zielgruppe zu schaffen.
Regulierungen und ethische Fragen rund um KI nehmen zu. Wie sollten Startups mit Themen wie Bias, Transparenz und Compliance umgehen?
Eine verantwortungsvolle Herangehensweise an KI kann zum Wettbewerbsvorteil werden und das Vertrauen von Kunden und Investoren stärken. Startups sollten entsprechende Überlegungen daher von Anfang an in ihre Produktentwicklung integrieren. Dazu gehört, Bias in Modellen zu erkennen und zu minimieren, Transparenz über die Funktionsweise von KI-Systemen zu schaffen und sicherzustellen, dass ihre Entscheidungen nachvollziehbar sind.
Praktisch bedeutet dies unter anderem, geeignete Sicherheitsvorkehrungen zu implementieren, die auf die jeweiligen generativen KI-Anwendungen zugeschnitten sind, damit Halluzinationen besser verhindert und schädliche Inhalte blockiert werden können. Tools wie Amazon Bedrock Guardrails können hierbei unterstützen. Startups sollten sich auch aktiv mit den Bedenken ihrer Zielgruppen auseinandersetzen, etwa der Sorge vor Jobverlust durch KI. Dabei empfiehlt es sich, transparent zu kommunizieren, wie ihre Technologie Menschen unterstützt und befähigt, statt sie zu ersetzen. Eine verantwortungsvolle Herangehensweise an KI kann zum Wettbewerbsvorteil werden und das Vertrauen von Kunden und Investoren nachhaltig stärken.
Der Wettbewerb im KI-Sektor ist enorm. Wie können Startups sich gegen Tech-Giganten behaupten und welche Rolle spielen Partnerschaften mit Unternehmen wie AWS?
Der Schlüssel liegt in der Spezialisierung auf spezifische Nischenmärkte und Branchenprobleme, die große Technologieunternehmen oft nicht im Fokus haben. Während große Anbieter die Grundlagenmodelle bereitstellen, liegt die eigentliche Wertschöpfung für Startups in der intelligenten Anwendung dieser Modelle für spezifische Branchen und Anwendungsfälle. Es geht weniger darum, mit den großen Unternehmen bei der Entwicklung von Grundlagenmodellen zu konkurrieren. Vielmehr sollten Startups einzigartige Lösungen schaffen, die spezifische Kundenprobleme lösen.
Partnerschaften mit Unternehmen wie AWS können gerade anfangs entscheidend sein. Sie ermöglichen Startups den Zugang zu Ressourcen, Technologien und Expertise, die sonst nur großen Unternehmen vorbehalten wären. Über Programme wie AWS Activate erhalten Startups nicht nur technische Ressourcen, sondern auch Unterstützung in Form von Fundraising-Hilfen, rechtlicher Beratung und Zugang zu einem globalen Partner-Netzwerk. Damit können Startups die oftmals großen Hürden zu Beginn überwinden.
Blick in die Zukunft: Welche KI-Trends werden das Startup-Ökosystem in den nächsten drei bis fünf Jahren maßgeblich prägen?
Zunächst wird sich die Kommodifizierung der Grundlagenmodelle fortsetzen – sie werden zu einem weiteren Teil der technischen Infrastruktur, den jeder nutzen kann. Der Fokus von KI-Startups verschiebt sich dabei von der Modellentwicklung hin zur Integration und Anwendung in spezifischen Branchen und Workflows. Besonders stark wird der Einfluss von KI bei der Entwicklung bisher unbekannter Geschäftsmodelle sein, die wir heute noch nicht absehen können. Erste Anzeichen dafür sehen wir bereits in Bereichen wie der KI-gestützten Pflegeoptimierung wie bei CareMates oder der intelligenten Steuerung von erneuerbaren Energiesystemen beim Startup Enspired.
Allerdings ist eine präzise Vorhersage der KI-Entwicklung schwierig – niemand konnte etwa den rasanten Aufstieg von generativer KI vor drei Jahren vorhersagen. Daher müssen sich Startups flexibel aufstellen, um neue Technologiesprünge zeitnah nutzen zu können. Auf der technischen Seite werden multimodale KI-Systeme, die verschiedene Datentypen wie Text, Bild, Audio und Video integrieren können, zunehmend wichtiger. Gleichzeitig gewinnen spezialisierte Modelle für bestimmte Branchen und Anwendungen an Bedeutung, da sie oft genauer und effizienter sind als universelle Modelle.
Was würdest du Gründerinnen und Gründern mitgeben, die KI als zentralen Bestandteil ihres Geschäftsmodells nutzen wollen?
Sie sollten sich auf Probleme und Wünsche ihrer Kunden konzentrieren, nicht auf die Technologie selbst. KI ist ein mächtiges Werkzeug, aber kein Selbstzweck. Die erfolgreichsten KI-Startups werden nicht diejenigen sein, die die neuesten Modelle nutzen, sondern diejenigen, die konkrete Probleme besser lösen als bestehende Alternativen.
Ebenso empfiehlt es sich, realistisch bei der Wahl von KI-Modellen zu sein. Größer ist nicht immer besser. Kleinere, spezialisierte Modelle können oft schneller, effizienter und kostengünstiger sein. Außerdem können integrierte Sicherheitsvorkehrungen die eigenen Produkte absichern, sodass KI-Anwendungen transparent, fair und vertrauenswürdig sind. Dies minimiert nicht nur regulatorische Risiken, sondern stärkt auch das Vertrauen von Kunden.
Doch der wichtigste Tipp zum Schluss: Agilität und Experimentierfreudigkeit sind essenziell, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Die KI-Landschaft entwickelt sich rasant weiter und was heute funktioniert, könnte morgen bereits überholt sein. Startups müssen daher flexibel bleiben, den Markt genau beobachten und ihre Strategie bei Bedarf anpassen.
Wir bedanken uns bei Marius Müller-Minde für das Interview
Aussagen des Autors und des Interviewpartners geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion und des Verlags wieder