Freitag, April 19, 2024
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Mehr digitale Barrierefreiheit

Barrierefreiheit ist eine der Grundlagen für eine inklusive und teilhabeorientierte Gesellschaft. Dennoch sind Menschen mit Behinderungen, trotz Digitalisierung und der breiten Spanne an zur Verfügung stehenden Technologien, bei alltäglichen Dingen oft auf Unterstützung angewiesen und gezwungen, auf teure Spezialprodukte zurückzugreifen, da die auf dem Markt existierenden Produkte und digitalen Dienste nicht barrierefrei funktionieren.

Angesichts dessen, dass der Bedarf an barrierefreien Produkten – nicht zuletzt wegen einer älter werdenden Bevölkerung – aller Voraussicht nach steigen wird und in den europäischen Mitgliedstaaten uneinheitliche und sich teils widersprechende nationale Regeln gelten, die letztlich verhindern, dass Unternehmen das volle Potential des Binnenmarkts ausschöpfen, hat die Europäische Kommission im Jahr 2019 die Richtlinie (EU) 2019/882 über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen (auch bekannt als European Accessibility Act) verabschiedet. Die Richtlinie zählt in einem umfangreichen Katalog digitale Produkte und webbasierte Dienstleistungen auf, die zukünftig nur noch barrierefrei in Verkehr gebracht beziehungsweise. erbracht werden dürfen. Damit werden erstmals verschiedene Bereiche der Privatwirtschaft zu barrierefreien Dienstleistungen und Produkten verpflichtet.

Neuer Bestandteil der Product Compliance

Das entsprechende nationale Umsetzungsgesetz hat der Bundestag am 20. Mai 2021 mit dem sogenannten Barrierefreiheitsstärkungsgesetzbeschlossen. Hersteller, Importeure, Händler oder Dienstleistungserbringer sind als betroffene Wirtschaftsakteure gehalten, die erfassten Produkte und Dienstleistungen barrierefrei herzustellen, zu vertreiben, anzubieten oder zu erbringen. Das kann vor allem für Start-ups, die Produkte und Dienstleistungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie anbieten, Auswirkungen haben. Ab dem 28. Juni 2025 müssen sich die im Gesetz festgelegten Elektronikprodukte und digitalen Dienste für Verbraucher an den gesetzlichen Barrierefreiheitsanforderungen messen lassen. 

Werden diese nicht oder nur unzureichend eingehalten, drohen hohe Bußgelder und staatliche Maßnahmen. Marktüberwachungsbehörden sind bei Verstößen berechtigt, die jeweiligen Wirtschaftsakteure zu verpflichten, Korrekturmaßnahmen zu ergreifen oder die Bereitstellung eines Produktes einzuschränken oder zu untersagen. Im worst case Szenario droht somit eine Handels-Rücknahme beziehungsweise ein behördlich angeordneter Produktrückruf. Das Barrierefreiheitsstärkungsesetz wird somit zukünftig Bestandteil der Product Compliance sein. Hersteller werden ihren (bestehenden) Prüfungskatalog der auf das jeweilige Produkt anzuwendenden Regularien um das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz als weitere Vorschrift der Product Compliance ergänzen müssen.

Produkte der Informations- und Kommunikationstechnik 

Für Start-ups am Relevantesten dürfte sicherlich die Frage sein, für welche Produkte und Dienstleistungen die Barrierefreiheitsanforderungen gelten. Zum einen müssen Hardware-Systeme für Verbraucher-Universalrechner einschließlich ihrer Betriebssysteme zukünftig barrierefrei gestaltet werden. Hierzu gehören insbesondere PCs, Desktops, Notebooks, Smartphones und Tablets. Zudem werden jegliche Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang, die für den Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten oder zu Telekommunikationsdiensten verwendet werden, erfasst. Dies fasst den Anwendungsbereich bei interaktiven Produkten äußerst weit. Da unter den Begriff der audiovisuellen Mediendienste neben den Angeboten der öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehanstalten auch die Video-on-Demand-Angebote von Streaming-Diensten (zum Beispiel Netflix) fallen, sind jegliche Geräte, über die solche Dienste abrufbar sind (Smart-TVs), erfasst.

Um bestehende Hindernisse im Alltag abzubauen, werden zudem Selbstbedienungsterminals wie Geld-, Fahrkarten- oder Check-In-Automaten miteinbezogen. Im Bereich der Dienstleistungen gilt das Gesetz insbesondere für Telefondienste, Messenger-Dienste, verschiedene Dienstleistungen im Personenbeförderungsbereich sowie Bankdienstleistungen für Verbraucher, E-Books oder Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr. Das Gesetz wird auch Auswirkungen auf den Online-Handel haben, da die elektronische Kommunikation und der Online-Kauf von Produkten oder Dienstleistungen für Verbraucher*innen barrierefrei möglich sein muss.

Da das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz lediglich festlegt, dass Produkte und Dienstleistungen barrierefrei gestaltet sein müssen, wird es maßgeblich auf die noch zu erlassende Rechtsverordnung ankommen, welche die genauen Kriterien definieren soll. Als allgemeiner Grundsatz gilt, dass Informationen über das Zwei-Sinne-Prinzip, in verständlicher Weise, in angemessener Schriftgröße, in geeigneter Schriftform und Kontrast und auf eine Weise, die die Nutzer wahrnehmen können, zur Verfügung gestellt werden müssen. Bei einer App werden sich beispielsweise die folgenden Fragen stellen: Kann die Schriftgröße angepasst werden oder existiert eine Zoomansicht? Ist die App auch für sehbehinderte oder motorisch eingeschränkte Menschen, die ein Bildschirmleseprogramm oder eine externe Tastatur nutzen, zugänglich? 

Ausnahmen für Kleinstunternehmen

Kleinstunternehmen, die Dienstleistungen erbringen, werden von den gesetzlichen Anforderungen an die Barrierefreiheit ausdrücklich ausgenommen. Zugunsten der Kleistunternehmen wird angenommen, dass die Einhaltung der Barrierefreiheitsanforderungen für sie eine unverhältnismäßige Belastung darstellen würde, sodass diese vom Pflichtenkreis ausgenommen sind. Dies dürfte für Start-Ups einer bestimmten Größe von Interesse sein. Als Kleinstunternehmen gilt jedes Unternehmen, das weniger als zehn Beschäftigte und höchstens einen Jahresumsatz oder eine Jahresbilanzsumme von zwei Millionen Euro hat. Für Kleinstunternehmen, die dennoch barrierefreie Dienstleistungen anbieten möchten, wird genauso wie für die, die Produkte herstellen oder vertreiben, jedoch ein Beratungsangebot eingerichtet. Dadurch sollen die Kleinstunternehmen bei der Einhaltung der Barrierefreiheitsanforderungen entlastet und unterstützt werden. Zum Schutze der Innovationsfreiheit zieht das Gesetz zudem Grenzen, wenn die Einhaltung der Anforderungen zu einer grundlegenden Veränderung der Wesensmerkmale des Produktes führen würde. Auch im Fall einer unverhältnismäßigen Belastung können Ausnahmen greifen. 

Ausblick

Start-Ups im Bereich der Telekommunikations- und Informationstechnologie sollten die kommenden Regelungen ernst nehmen und zeitnah prüfen, ob ihre Produkte dem Anwendungsbereich des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes unterfallen. Nur so kann sichergestellt werden, dass der Vertrieb nach dem 28. Juni 2025 nicht gestoppt wird. Bei der Entwicklung neuer Produkte sollten die Vorgaben bereits in den Entwicklungsprozess einbezogen werden, um nachträgliche kostenintensive Anpassungen zu vermeiden. Aufgrund der drohenden Bußgelder und Maßnahmen der Marktüberwachungsbehörden, sollte der Erfüllung der Barrierefreiheitsanforderungen eine hohe Priorität eingeräumt werden.

Autor:

Franziska Wenzler ist Rechtsanwältin bei der internationalen Wirtschaftskanzlei CMS Deutschland. Sie ist spezialisiert sich auf Produkthaftung, Produktsicherheit und Product Compliance. Schwerpunkt ihrer Compliance-Tätigkeit ist die Einhaltung deutscher und europäischer Vorgaben für das In-Verkehr-Bringen von Produkten.

Aussagen des Autors und des Interviewpartners geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion und des Verlags wieder

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