Unter dem Stichwort „Sozialkreditsystem“ sorgen Nachrichten von Überwachung und Gängelung ausländischer Unternehmen in China für Unruhe. Dabei bietet China deutschen Unternehmen gute Geschäftschancen. Gerade Start-ups wissen zu schätzen, dass der chinesische Markt für neue Geschäftsmodelle aufgeschlossen ist. Auch Finanzierungen sind in China zuweilen unkomplizierter als im Heimatmarkt.
Zunächst zur Beruhigung:
Das Sozialkreditsystem wurde weder gezielt zur Kontrolle ausländischer Investoren geschaffen, noch ist es etwas völlig Neues. Betroffen sind lokale chinesische und Unternehmen mit ausländischer Kapitalbeteiligung mit Sitz in China. Für rein ausländische Unternehmen gilt es nicht. Deutsche Start-ups ohne Berührung zum chinesischen Markt werden nicht erfasst. Auch Start-ups, die lediglich nach China liefern oder dort einkaufen, sind vom Sozialkreditsystem derzeit und in absehbarer Zukunft nicht betroffen. Erst wenn der ausländische Investor eine Tochtergesellschaft in China gegründet hat, nimmt diese an der Bewertung teil.
Jedes Unternehmen mit Sitz in China bekommt ein Rating nach Punkten. Für die Bewertung werden alle Geschäftsaktivitäten herangezogen, von Produktqualität über Arbeitsschutz bis Cybersicherheit. Das Sozialkreditsystem wird gespeist mit verpflichtenden Meldungen der Unternehmen an die Behörden, eigenen Ermittlungen der Behörden sowie Informationen kommerzieller Ratingagenturen und E-Commerce-Plattformen.
Der Plan ist nicht neu:
Die Entscheidung für das Sozialkreditsystem traf der Staatsrat der Volksrepublik China 2014. Zudem sollten Unternehmen in China damit vertraut sein, permanent bewertet zu werden. Denn: Das geschieht bereits seit Jahren – allerdings fragmentiert in diversen Registern einzelner Fachbehörden. In den nächsten Monaten werden die Daten zusammengeführt und ergänzt. Eine nationale Internet- und Monitoring-Datenbank, die Grundlage des neuen Systems, wird aktuell getestet. 2020 soll der Vorgang abgeschlossen sein, das integrierte System landesweit zur Verfügung stehen und sämtliche Unternehmen in China erfassen.
Neu ist, dass künftig auch schwammige Kriterien das Rating beeinflussen. Ein Beispiel ist negative Publicity über das Unternehmen in chinesischen Medien, einschließlich Social Media. Auch die „Gefährdung des nationalen Interesses“ ist Auslöser für negative Bewertungen. Noch unklar sind Einfluss und Umfang der von kommerziellen Ratingagenturen und E-Commerce-Plattformen herangezogenen Daten.
Ein schlechtes Rating kann einschneidende Konsequenzen haben, beispielsweise Geldstrafen, häufigere Kontrollen oder ein Eintrag in schwarze Listen. Auch der gesetzliche Vertreter des Unternehmens und das Management des Unternehmens sind Sanktionen ausgesetzt, zum Beispiel Einschränkungen beim Kauf von Flug- und Schnellzugtickets sowie Hotelbuchungen.
Die Mehrzahl dieser Sanktionen konnte bei Gesetzesverstößen auch in der Vergangenheit schon verhängt werden.
Unternehmen können Falschbewertungen zukünftig bei der zuständigen Behörde korrigieren lassen. Negativpunkte können sie durch die Teilnahme an Trainings abbauen, ausgenommen solche für bestimmte schwerwiegende Verstöße. Trainings können bei zugelassenen kommerziellen Anbietern gebucht werden – Skepsis gegenüber daraus entstehenden Geschäftsmodellen ist durchaus angebracht.
Das Innovative oder Perfide – je nach Standpunkt – am Sozialkreditsystem ist, dass die Bewertung von Geschäftspartnern des Unternehmens in Zukunft auf dessen eigenes Rating Einfluss haben wird. Das ist ein neuer Ansatz, den es auch in China so noch nicht gab. Der Hintergedanke: Andere Marktteilnehmer meiden die „schwarzen Schafe“ und das Bewertungssystem erhält selbstvollziehenden Charakter. Der Wirtschaftsverkehr in China ist derzeit durch Misstrauen geprägt. Es gibt eine Reihe unseriöser Unternehmen.
Die chinesische Regierung will das Vertrauen der Marktteilnehmer untereinander wiederherstellen. Der Rechtsprechung allein traut sie das nicht zu. Daher verfolgt sie einen neuen Ansatz: die technisierte, Big-Data-gestützte Schaffung des gläsernen Unternehmens. Zusätzliches Ziel ist, der Dominanz westlicher Ratingagenturen ein selbst geschaffenes Modell entgegenzusetzen.
Das Sozialkreditsystem für Unternehmen arbeitet überwiegend mit rechtlichen und wirtschaftsrelevanten Parametern.
Damit unterscheidet es sich vom berüchtigten Scoring der Bevölkerung nach deren privatem Verhalten. Es erscheint plausibel, dass Verstöße – etwa gegen Umweltschutz oder Steuer- und Zollbestimmungen – geahndet und veröffentlicht werden. Geschieht das in fairer und transparenter Weise, schützt es Verbraucher und Geschäftspartner. Die Tochtergesellschaften deutscher Unternehmen in China sind in der Regel rechtstreu und sollten wenig zu befürchten haben.
Befürworter des neuen Systems heben hervor, dass es die Rechtstreue chinesischer Wettbewerber verbessern kann, die bislang vom Staat oft nachsichtig behandelt wurden. Allerdings ist hier eine gewisse Skepsis angebracht. Technologie kann die Wirtschaftsverwaltung unterstützen. Das Sozialkreditsystem erfordert aber integre, rechtskonforme Anwendung und kann nicht aus eigener Kraft über rechtsstaatliche Defizite in Verwaltung und Rechtsprechung hinweghelfen. Kein System kommt ohne menschlichen Input aus. Bei der Kommunikation und Durchführung von Kontrollen sowie bei der Korrektur von Bewertungen ist Beeinflussung nicht ausgeschlossen. Auch bleibt unklar, wie der Bewertungsalgorithmus aufgebaut ist und wie die einzelnen Faktoren gewichtet werden, von gezielter Manipulation ganz zu schweigen.
Start-ups mit Interesse am chinesischen Markt sollten sich mit dem System vertraut machen. Eine Umfrage der Deutschen Außenhandelskammer in China kam zu dem besorgniserregenden Ergebnis, dass sieben von zehn ihrer Mitgliedsunternehmen vom Sozialkreditsystem entweder überhaupt nichts wissen oder unzureichend darauf vorbereitet sind. Es herrscht Handlungsbedarf.
Steht die Gründung einer Tochtergesellschaft in China noch bevor, wurde nichts verpasst.
Dann muss man sich nur darauf einstellen, dass diese vom Gründungstag an bewertet wird, und die Kriterien dafür kennen. Existiert bereits eine Tochtergesellschaft in China, sollte man sich schnell Klarheit über deren aktuelles Rating verschaffen. Dies geschieht durch Einsicht in die bestehenden verstreuten Register bei der Administration for Market Regulation sowie den Steuer-, Zoll- und Umweltbehörden, da das integrierte Portal noch nicht existiert. Je nach Größe und Branche des Unternehmens ist das Rating unterschiedlich komplex.
Ein Start-up kann sich schneller einen Überblick verschaffen als ein Großkonzern; in der Consultingbranche leichter als im Chemiesektor. Besteht der Eindruck, irrtümlich falsch bewertet zu sein, sollte dies umgehend durch einen Antrag bei der zuständigen Behörde korrigiert werden. Unabhängig davon empfiehlt es sich, die Complianceregeln der Tochtergesellschaft an die Vorgaben des chinesischen Rechts anzupassen und konsequent umzusetzen.
Autor: Dr. Falk Lichtenstein ist Rechtsanwalt und Partner bei der internationalen Wirtschaftskanzlei CMS in Peking. Er berät Mandanten im chinesischen Gesellschaftsrecht, chinesischen und internationalen Handelsrecht sowie zu Dispute Resolution.
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