In vielen Start-ups gilt das ungeschriebene Gesetz, dass Gründerinnen und Gründer und deren Teams ständig erreichbar sein müssen. Dies hat zur Folge, dass Arbeitstage sehr lang und maximal fragmentiert sind und alle oft im Bewältigungs- und Multitasking-Modus agieren müssen. Es stellt sich daher die Frage, ob dies aus Sicht des menschlichen Gehirns tatsächlich produktiv ist. Ein Beitrag von Vera Starker, Autorin und Co-Gründerin des Berliner ThinkTanks NWI.
Fragmentierung, Multitasking und Multiswitching als Produktivitätskiller
Multitasking ist nicht nur in aller Munde, sondern nahezu überall täglich gelebte Arbeitspraxis. Aktuelle Studien zeigen, dass die eigene Tätigkeit im Schnitt alle 10,5 Minuten – oft mit neuen Anforderungen und Aufgaben verbunden – unterbrochen wird. Gefühlt werden alle dieser Tätigkeiten gleichzeitig erledigt. Aus neurobiologischer Sicht ist Multitasking allerdings gar nicht möglich. Bearbeiten Menschen also zwei oder noch mehr konzentrationsbedürftige Aufgaben zeitgleich, muss man vielmehr von Multiswitching sprechen, also dem sehr schnellen Wechsel zwischen verschiedenen Themen. Das interessante hierbei? Der Zeitverlust notorischer Multitasker wird in einschlägiger Forschungsliteratur auf etwa 30 Prozent geschätzt, die Erhöhung der Fehlerquote auf etwa 20 Prozent. Multiswitching verlangsamt Menschen also de facto in ihrem Tun.
Eine Erklärung hierfür findet sich im Aufbau des menschlichen Gehirns:
Es braucht circa sieben Minuten, um in Konzentration zu kommen und ganze 23 Minuten, um konzentriert wieder dort anzusetzen, wo es unterbrochen wurde. Dieser enorme Produktivitätsverlust stellt nicht die einzige Folge von Multiswitching dar. Diese Art zu arbeiten, hat überdies auch Auswirkungen auf das Stresserleben, welches durch Fragmentierung und häufiges Multitasking messbar erhöht wird. Im Kontext von Fragmentierung und der Anwendung von digitalen Technologien spricht man von sogenannten digitalem Stress.
Schlechtere Entscheidungen, mehr Fehler und dünnhäutiger?
Weniger bekannt, ist die Tatsache, dass Fragmentierung und Multitasking auch einige sehr relevante kognitive Funktionen im menschlichen Gehirn einschränken. Hier liegt die eigentliche Gefahr für die Produktivität und Leistungsfähigkeit. Denn den nachfolgenden kognitiven Funktionen geht eine Grundeigenschaft voraus, die unerlässlich ist: die Kompetenz sich zu fokussieren. Ohne sie sind kognitive Leistungen wie Fehlererkennung und Initiierung von passenden Maßnahmen, gute Entscheidungsfindungen und Lernprozesse, aber auch das Erkennen und Bewerten sozialer Prozesse oder Angstregulierung nicht möglich. All diese Funktionen sind aber insbesondere für Start-up-Gründer und Gründerinnen hochrelevant, da deren Kompetenzen und Entscheidungen gerade in der Anfangsphase großen Einfluss auf den Erfolg ihrer Unternehmen ausüben. Die Fähigkeit sich zu fokussieren, ist es also, die unter Multiswitching und Fragmentierung ganz besonders zu kurz kommt – und in der Folge leiden die beschriebenen kognitiven Fähigkeiten.
3 Gründe, die davon abhalten, fokussiert zu arbeiten
Sieht man sich die möglichen Gründe dafür an, warum die Fakten, die daraus resultierende Leistungsminderung und auch die Stresssymptome so häufig ignoriert werden, stößt man auf drei Phänomene:
#1: Die Erreichung der gesetzten Zielmarken seitens der Gründer und Gründerinnen – insbesondere in von Investoren finanzierten Start-ups – wird meist maximale Priorität eingeräumt, hinter der häufig die eigene Gesundheit und Leistungsfähigkeit zurückstehen muss. Dementsprechend bleiben alle gut gemeinten Ratschläge, sich zu fokussieren, Pausen und Digital Detox einzubauen, oftmals ungehört.
#2: Wir fragmentieren uns häufig selbst. So schauen Menschen im Schnitt 88-mal am Tag auf ihr Smartphone, wobei der Griff zum Handy bereits automatisiert abläuft und es daher keiner bewusst gesteuerten Handlung mehr bedarf. Der persönliche Umgang mit dem Smartphone konterkariert unsere Bemühungen um Fokus daher massiv.
#3: Multiswitching erzeugt bei vielen Menschen im persönlichen Erleben ein Gefühl von hoher Produktivität, da scheinbar vieles gleichzeitig bewegt werden kann. Die Vorstellung, konzentriert nach dem Singletasking-Prinzip zu arbeiten, löst Druck und das Gefühl aus, nicht mehr genug zu schaffen. Multiswitching wird hier intuitiv als Copingstrategie bei hohem Stresserleben eingesetzt. Aus Sicht der Arbeitsproduktivität korreliert das Erleben hoher Produktivität aus den genannten Gründen aber eben nicht mit realer Produktivität. Vielmehr wird hier „beschäftigt sein“ – bei gleichzeitig hoher Ausschüttung der Stresshormone Cortisol und Adrenalin – mit Produktivität verwechselt.
Deep-Work-Zeiten für das gesamte Unternehmen
Schon die Einführung einer täglichen Fokuszeit von nur einer Stunde erhöht Produktivität und Leistungsfähigkeit messbar und lässt sich am Tagesende sogar am Cortisolspiegel ablesen. 60 Minuten konzentriertes Arbeiten – und demnach ohne Unterbrechung – kann allerdings zur Herausforderung für diejenigen werden, die ihr Gehirn bereits darauf trainiert haben, auch auf kleinste Impulse zu reagieren. Das kann dazu führen, dass Einzelne weiterhin andere Teammitglieder fragmentieren, die sich konzentrieren möchten. Der Ausweg liegt in der Einführung täglicher Deep-Work-Zeiten für das gesamte Team – und zwar für alle zeitgleich. In dieser Deep-Work-Phase, die idealerweise sogar zwei Stunden pro Tag beträgt, werden nahezu alle konzentrationsbedürftigen Inhalte bearbeitet und das deutlich effizienter und qualitativ hochwertiger als unter Fragmentierung.
Fazit
Konzentration und Fokus zu trainieren, ist für die geistige Leistungsfähigkeit mindestens ebenso unerlässlich wie tägliche Bewegung, Schlaf und gesundes Essen. Die größte Herausforderung liegt letztlich darin, über den inneren Impuls, möglichst viel zu schaffen, nicht wieder ins Multitasking verfallen, sondern über Singletasking und Deep Work die eigene Leistungsfähigkeit und die des Teams wieder messbar zu steigern.
Bild: pixabay
Autor: Vera Starker
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