Freitag, September 22, 2023
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Was bringt Industrie 4.0 für Deutschland?

Philipp Ramin im Interview über Industrie 4.0 und die Wirtschaft

Was ist das revolutionäre an der Industrie 4.0

Philipp Ramin: Das was wir bisher in Bezug auf Industrie 4.0 gesehen haben, ist mehr evolutionär als revolutionär. Die meisten Firmen haben mit überschaubaren Digital-Innovationen ihre Prozesse in Teilbereichen optimiert. Revolutionär wird Industrie 4.0 erst dann, wenn das Geschäftsmodell nicht nur digitalisiert wird, sondern zu einem digitalen Geschäftsmodell transformiert wird. Damit gehen tiefgreifende Veränderungen einher, wie etwa die Definition des eigentlichen verkauften Nutzens und mit welchen Aktivitäten die Wertschöpfung entsteht. Die Umsetzung von durch Industrie 4.0 verursachten Veränderungen setzt ein unternehmensweites Umdenken voraus. Die Revolution der Industrie 4.0 findet somit aber vielmehr bei den Kompetenzen der Menschen statt sowie in der Organisation und Kultur der Unternehmen, die diese die großen Veränderungen erst ermöglichen.

Was bringt Industrie 4.0 für Deutschland?

Philipp Ramin: Allein der Begriff Industrie 4.0 hat bei aller Kritik schon sehr viel für Deutschland gebracht. Weltweit wird die Digitalisierung von wertschöpfungsnahen Bereichen wieder mit deutschem Knowhow in Verbindung gebracht. Selbst in China oder Malaysia findet sich der Begriff in deutscher Schreibweise. Das ist gut für das Ansehen der deutschen Wirtschaft. Der Begriff hat außerdem viele bestehende Ideen der Digitalisierung zu einem Gesamtkonzept zusammengebracht und damit eine neue Veränderungsdynamik angestoßen, auch wenn nicht alles neu war.

Ganz konkret können deutsche Firmen mit Industrie 4.0 die Chance nutzen, echte neue digitale Produkte und Dienstleistungen auf den Markt bringen, die sich an neue Marktsegmente richten. Doch auch intern gibt es bei den Prozessen noch sehr viel Verbesserungspotenzial. Durch vernetzte und transparente Wertschöpfungsprozesse können Kosten gesenkt, Durchlaufzeiten verbessert und die Qualität erhöht werden. Das ist ebenso entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Ökonomie, gerade im Vergleich mit den Wachstumsländern dieser Welt.

Was ist eine intelligente Fabrik?

Philipp Ramin: Was eine intelligente Fabrik (Smart Factory) ist, interpretiert jede Branche, ja teilweise sogar jede Firma anders. Vereinfacht geht es bei Smart Factories im Kern um die Grundprinzipien der Vernetzung, der Transparenz und der Autonomität basierend auf Daten. Das bedeutet, dass sich beispielsweise ein Werkstück selbstständig durch die einzelnen Prozesse steuert und eine vernetzte Kommunikation zwischen allen beteiligten Anlagen, Maschinen und natürlich auch den Mitarbeitern erfolgt. Gleichzeitig wird alles was physisch passiert, digital in einem System gespiegelt, wodurch ein hohes Maß an Transparenz entsteht sowie flexible Anpassungen von Prozessen und Produkten ermöglicht werden.

Wie wird Industrie 4.0 die Wirtschaft verändern?

Philipp Ramin: In vielen Branchen verschieben sich die Geschäftsgrundlage und auch die „Machtverhältnisse“. Das ist darin zu erkennen, dass immer mehr Software-Komponenten und Algorithmen eine zentrale Rolle spielen. Der USP vieler Produkte wird immer öfter durch Software hervorgerufen und tendenziell weniger durch klassisches Engineering. Dadurch entsteht derzeit auch eine neue Lieferantenhierarchie mit Gewinnern und Verlieren. Ebenso gewinnen auch innerhalb der Unternehmen IT-orientierte Berufsgruppen zunehmend an Bedeutung, da ihr Skillset immer wichtiger wird, wenn es um die digitale Transformation geht.

Aus ökonomischer Sicht wird Industrie 4.0 die deutsche Wirtschaft weiter verändern. Neue Branchen, neue Marktteilnehmer und neue Ökosysteme entwickeln sich derzeit sehr schnell. Ganz grundsätzlich verschwimmen die Grenzen zwischen Technologien und Märkten. Die deutsche Wirtschaft ist leider an vielen Stellen noch deutlich zu zurückhaltend und daraus resultieren auch langsam. Ich sehe bei vielen Firmen noch immer eine gefährliche „Abwarte-Haltung“, die in anderen Teilen Europas und Asiens nicht so ausgeprägt ist. Insbesondere werden vielerorts die Mitarbeiter noch nicht wirklich eingebunden, obwohl das lebenslange Lernen heute wichtiger denn je ist. Hierzu braucht die deutsche Wirtschaft umfassendere Weiterbildungsmöglichkeiten quer durch alle Berufsgruppen und Hierarchiestufen.

Wie wird  sich die Arbeit durch Industrie 4.0 verändern?

Philipp Ramin: Wir sehen über alle Bereiche hinweg eine enorme Beschleunigung der Arbeitswelt. Das hängt ganz unmittelbar mit der Digitalisierung zusammen, da Daten omnipräsent sind und wir in allen Bereichen kontinuierlich Daten bewerten müssen, teilweise nur unterbewusst. Anstatt mit Stabilität wird die Arbeitswelt mit ständigen Veränderungen konfrontiert, sei es bei den Produkten, den Prozessen oder Technologien.

Die Arbeit 4.0 ist aber auch deutlich flexibler, sowohl was die Art, den Ort als auch die Zusammenstellung der Teams angeht. Das erfordert einen enormen Kulturwandel, da nur so das geforderte Maß an Flexibilität und Lernbereitschaft in die DNA der Firmen nachhaltig übergeht.

Grundsätzlich verändern sich somit viele Anforderungen, sowohl in den produktiven als auch in den administrativen Bereichen. Hier gilt es neue Kompetenzen systematisch aufzubauen, damit die Menschen den digitalen Wandel akzeptieren und die Vorteile erkennen. Diese Aufgabe wird uns dauerhaft verfolgen, die Zeit von oberflächlichen Inspirationsworkshops, die einmal im Jahr veranstaltet werden ist vorbei.

Welche Prozesse sind bereits automatisiert?

Philipp Ramin: Wichtig ist, dass wir zwischen Automatisierung und Digitalisierung unterscheiden. Automatisiert sind Prozesse in der Fertigung schon seit den 1970er Jahren. Weite Teile der industriellen Fertigung sind in Deutschland stark automatisiert. Aber ein klassischer Industrieroboter hat zunächst einmal nichts mit Digitalisierung zu tun. Die Frage ist, in welchen Bereichen die Automatisierungstechnik miteinander vernetzt ist und sich dezentral und adaptiv steuern kann. Und da gibt es meist nur recht isolierte Insellösungen für bestimmte Teilprozesse, etwa bei der Montage.

Wie vernetzt arbeiten die Maschinen in der Produktion?

Philipp Ramin: Viele Prozesse sind hochautomatisiert, aber die Vernetzung ist in den meisten Produktionsbereichen sehr gering. Größere Unternehmen haben mit Hilfe von MES-System die Fertigungssteuerung vernetzt, was ein guter Schritt ist. Typischerweise wurde jedoch in den meisten Unternehmen nur damit begonnen einzelne Teilschritte zu vernetzen, allerdings sind das in den meisten Fällen leider noch recht isolierte Insellösungen.

Welche Daten werden erfasst?

Philipp Ramin: Die Erfassung von Daten ist nichts Neues. Die meisten Unternehmen sammeln schon lange viele Daten – auch mit älteren Maschinen, z.B. Parameter zur Temperatur, Durchlaufzeiten oder Qualitätsparameter. Das viel größere Problem liegt darin, dass sich bisher kaum jemand um diese Daten gekümmert hat, was wiederum auf mangelnde Kompetenzen aber auch auf fehlende Prozesse und Arbeitsanweisungen hierfür zurückzuführen ist. Dabei sind Daten ein wertvolles Wirtschaftsgut, wenn man weiß wie man sie sinnvoll nutzt.

Welche Kompetenzen hinsichtlich der Digitalisierung haben die Mitarbeiter ?

Philipp Ramin: Beim Innovationszentrum Industrie 4.0 sind wir mit der Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten und Ideen zur nachhaltigen Umsetzung von Digitalisierung in Unternehmen beschäftigt. Somit muss jeder in unserem Team den Alltag der Unternehmen kennen, um sinnvolle Anwendungen ableiten zu können. Wir bezeichnen das als digitale Domänenkompetenz. Andererseits fokussiert sich unsere Mitarbeiterkompetenz sehr stark auf das Zusammenspiel aus technischen Anforderungen, z.B. im KI-Umfeld und den nicht-technischen Faktoren wie den organisatorischen Wandlungsprozess.

Durch die enge Zusammenarbeit mit Industriekunden, beispielsweise bei E-Learning Projekten zur Weiterbildung der Mitarbeiter, brauchen unsere Mitarbeiter von i40.de ein tiefes interdisziplinäres Verständnis für die verschiedensten Abteilungen, die weltweit in unterschiedlichen Kulturkreisen agieren.

Wie wird sich die Industrie 4.0 auf den Bedarf an Schichtarbeit auswirken?

Philipp Ramin: Eine Zunahme der Schichtarbeit durch Industrie 4.0 ist bisher nicht zu erkennen. Es ist davon auszugehen, dass Schichtarbeiten durch Industrie 4.0 eher reduziert werden, da bestimmte Standardprozesse sich zukünftig stärker autonom steuern werden ohne dass ein Einfluss von vielen produktiven Mitarbeitern notwendig wird.

Sind Unternehmen und Mitarbeiter auf mehr Flexibilität im Hinblick auf Arbeitszeit und Arbeitsort eingestellt?

Philipp Ramin: In puncto Flexibilität von Arbeitszeit und Arbeitsort gibt es in der klassischen Industrie noch viel Nachholbedarf. In größeren Unternehmen gibt es zwar Gleitzeitmodelle, allerdings beziehen diese sich meist ausschließlich auf den Verwaltungsbereich. Flexible Modelle hinsichtlich des Arbeitsortes sind in der Industrie die absolute Ausnahme. Da fehlt es an der grundsätzlichen Kultur, Struktur und den Prozessen, die so etwas ermöglichen würden. Flexibilität bezüglich Arbeitszeit und Arbeitsort sind zunehmend im Startup, Software- oder auch im Beratungsumfeld zu finden.

Dr. Philipp Ramin ist CEO des Schulungs-, Beratungs-, und Forschungsunternehmens Innovationszentrum für Industrie 4.0, das heute mit einem führenden internationalen Schulungsprogramm für digitale Weiterbildung für Unternehmen in 13 Ländern Europas und Asiens digitale Kompetenz aufbaut und weiterentwickelt.
Zudem ist er stellv. Geschäftsführer des Münchner Kreis und forscht zu digitalen Geschäftsmodellen an der Universität Regensburg.

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