Donnerstag, Oktober 9, 2025
StartEvents & TermineSolange es sich lohnt, diskriminierende Strukturen aufrechtzuerhalten, wird sich an ihnen wenig...

Solange es sich lohnt, diskriminierende Strukturen aufrechtzuerhalten, wird sich an ihnen wenig ändern

Waslat Hasrat-Nazimi ist Journalistin, Autorin und Mutter. In ihrem Buch “Rausländer  – Unsere Koffer sind gepackt” beschreibt sie, wie viele Menschen mit internationaler Familiengeschichte sich in Deutschland nicht mehr willkommen fühlen. Mit herCAREER-Redakteurin Kristina Appel hat sie über das Einwanderungsland Deutschland, dessen selektives Demokratieverständnis und über Visionen für ein neues deutsches Selbstverständnis gesprochen.

„Von der Politik wünsche ich mir eine Vision, die mir die Vorteile einer Veränderung näherbringt. Eine Vision, die zeigt, wie wir zu einer guten, großen, vielfältigen Gesellschaft zusammenwachsen können, in der alle gleichberechtigt sind.”

herCAREER: Der Ausgangspunkt deines Buchs ist die letzte Bundestagswahl. Was war an dieser anders als an der vorherigen?

Waslat Hasrat-Nazimi: Einerseits war es für mich beeindruckend zu sehen, dass die Erfolge der A*D so real geworden sind und sich längst nicht mehr „da im Osten“ verorten lassen. Andererseits habe ich eine Diskrepanz erlebt: Während migrantische Menschen wie ich diese Wahl mit großer Sorge und Unsicherheit verbunden haben, war das für viele nicht-migrantische Menschen deutlich weniger spürbar.

herCAREER: Worin zeigt sich diese Diskrepanz?

Viele Menschen negieren oder verharmlosen den Rassismus in Deutschland weiterhin. Das erlebe ich ständig. Gleichzeitig bleiben die Sorgen, Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit bei migrantischen und migrantisch gelesenen Menschen häufig ungehört.

herCAREER: Welche Gefühle haben die Menschen beschrieben, mit denen du für dein Buch gesprochen hast?

Waslat Hasrat-Nazimi: In einer großen Gruppe von migrantischen Menschen erlebe ich das Gefühl der Enttäuschung und ein Abwenden von der deutschen Gesellschaft. Sie haben das Gefühl, hier eh nicht willkommen zu sein und das auch nie zu werden. Deswegen fühlt es sich für sie egal an, wie sehr sie sich integrieren und anstrengen, denn es bringt ja doch nichts.

herCAREER: Was folgt auf diese Resignation?

Sie verstärkt die ohnehin schon existierenden Gräben zwischen der weißen Mehrheitsgesellschaft und der Bevölkerung mit internationaler Familiengeschichte. Diese Spaltung verursacht Unmut – und der öffnet Tore für alle Formen von Radikalismus.

herCAREER: Beschreibst du Deutschland darum als demografisches Pulverfass?

Ja. Ich kann diese Gefühle nachvollziehen. Die Leute haben das Gefühl, dass sich Deutschland und seine Bevölkerung verändern. Es ist nur menschlich, verunsichert zu sein. Aber ich mache die Politik dafür verantwortlich, dass sie den demografischen Wandel instrumentalisiert, um von ihrer eigenen Unfähigkeit abzulenken. Von der Politik wünsche ich mir eine Vision, die mir die Vorteile einer Veränderung näherbringt. Eine Vision, die zeigt, wie wir zu einer guten, großen, vielfältigen Gesellschaft zusammenwachsen können, in der alle gleichberechtigt sind. Aber das passiert nicht. Im Gegenteil: Die Unsicherheit wird für eine populistische Agenda ausgenutzt. Es gibt keine Vision für Deutschland, außer: „Wir wollen wieder zurück zu dem, was war“. Aber das ist überhaupt nicht realistisch.

herCAREER: Und nicht wahr. Die deutsche Wirtschaft hat sich schon immer auf Arbeitskräfte aus anderen Ländern gestützt.

Waslat Hasrat-Nazimi: Ja. Wir haben eine stagnierende Wirtschaft, den Klimawandel und wissen nicht, wie es mit Russland und der Ukraine weitergehen wird. Aber die Politik konzentriert sich nur auf das Narrativ der kriminellen, gewalttätigen Ausländer, die abgeschoben werden sollen. Unsere wahren Probleme – die vor allem sozialer Natur sind – werden jedoch nicht anerkannt und nicht angegangen.

herCAREER: Auf welche konkreten sozialen Probleme beziehst du dich?

Beispielsweise auf die lückenhafte Infrastruktur, die Wohnungsnot oder die Tatsache, dass viele arbeitende Menschen am Ende des Monats nicht genug Geld haben, um Essen zu kaufen. Oder dass es bei uns Kinderarmut gibt, obwohl wir zu den reichsten Ländern der Welt gehören, ist ein massives Problem.

herCAREER: Warum halten sich diese Narrative so hartnäckig? Fehlt es uns an Selbstreflexion?

Ich glaube, dass dies sehr bewusst geschieht und dass auch eine gewisse Arroganz mitschwingt. Nach dem Motto: „Wir brauchen gar keine Fachkräfte von außen. Wir sind schließlich Deutschland. Wenn wir mehr in Wirtschaft und Wissenschaft investieren und alle mehr arbeiten, wird das schon.“ Was das jedoch auch bedeuten würde, ist, dass Männer wieder länger arbeiten und Frauen ihre Rechte und ihre Freiheit einbüßen müssten, um die unbezahlte Carearbeit für Familienangehörige komplett zu übernehmen. Den Menschen wird suggeriert, wir könnten dieses Land auch ohne Zuwanderung wieder auf Vordermann bringen, was aber nicht realistisch ist. Und wenn überhaupt, dann, wie gesagt, mit großem Verlust für Frauen, queere und Menschen mit internationaler Familiengeschichte. Diese populistischen, rechtskonservativen Narrative sehen wir überall in Europa und Amerika.

herCAREER: Hast du das Gefühl, dass Politiker:innen derzeit nach Amerika blicken und sich sagen: „Lass uns mal sehen, wie weit wir mit unserer Agenda gehen können?”

Absolut.

herCAREER: Werden auch bei uns Menschen künftig Angst haben, von der Einwanderungsbehörde auf der Straße aufgegriffen zu werden?

Waslat Hasrat-Nazimi: Ich glaube nicht, dass es so schnell passieren könnte wie in den Vereinigten Staaten. Aber ich beobachte auch, dass CDU und CSU sich seit einigen Jahren stark von den USA anstecken lassen. So ist die CSU mit drei Politiker:innen in die USA gereist, um einen queerfeindlichen republikanischen Gouverneur zu besuchen. Teile der CDU wiederum empfangen eine Delegation der Heritage Foundation, die das “Project 2025” entworfen hat. Das muss man beobachten.

herCAREER: Statistisch hat rechtsextreme Gewalt in Deutschland einen neuen Höchststand erreicht und die Diskriminierung von Menschen, die als Migrant:innen gelesen werden, steigt. Wie brechen wir diese Bewegung, in der ein rechtsextremes Mindset plötzlich gesellschaftsfähig ist? Wo setzen wir an? Bei der Bildung?

Mit Bildung allein erreichen wir da wenig, glaube ich. Denn ich erlebe oft sehr gebildete Menschen mit starkem rechtem Gedankengut. Ich glaube, Veränderung entsteht durch die Verbindung von Bildung und Begegnung. Und das ist ein Problem für sich, denn Deutschland ist ein sehr klassistisch geprägtes Land. Das beginnt schon in der Bildung, die ja genau diesem Klassismus unterworfen ist und immer noch ein Zwei-Klassen-System unterstützt. Solange es sich lohnt, exklusive Kreise und diskriminierende Strukturen aufrechtzuerhalten, wird sich daran wenig ändern.

herCAREER: Hast du eine Idee?

Solange es sich lohnt, dieses Gedankengut zu haben, werden wir es sicher nicht schaffen. Warum sollte man das Privileg aufgeben, in einem Netzwerk zu leben, in dem einem Jobs zugeschoben werden und sich Türen von selbst öffnen? Für mich sind nicht die rechten oder rechtsextremen jungen Männer im Osten das große Problem, sondern diese elitären Kreise, die ein ausgrenzendes Gedankengut immer weiter befeuern und am Leben erhalten.

herCAREER: Du beschreibst, dass wir zwar theoretisch in einem demokratischen Land leben, ein demokratisches Zusammenleben aber praktisch nicht möglich ist, weil so vielen Menschen die Zugänge versperrt werden. Wie sähe eine inklusive, wehrhafte Demokratie in deinen Augen aus?

Waslat Hasrat-Nazimi: Eine wehrhafte Demokratie müsste diese Tradition der verschlossenen Zugänge aushebeln können. Unser Bildungssystem hätte schon vor 50 Jahren reformiert werden müssen – wir stehen so schlecht da im internationalen Vergleich! Ich finde es schockierend, was in Deutschland alles einfach so hingenommen wird.

herCAREER: Zum Beispiel?

Dazu gehört ein klassistisches Schulsystem, aber auch die wachsende (digitale) Gewalt gegen Politiker:innen. Oder dass eine Maskenaffäre unter den Teppich gekehrt wird. Dass der deutsche Kolonialismus und der Nationalsozialismus nie ordentlich aufgearbeitet wurden. Wir lehren Geschichte, aber wir ziehen offensichtlich keine Konsequenzen daraus. Dasselbe mit der Pandemie – wann reflektieren wir, was das mit uns als Land gemacht hat?

herCAREER: Deutschland sitzt die Dinge also aus. Du deutest im Buch darauf hin, dass sich auch die Gesetzgebung nur langsam an das Zeitgeschehen anpasst. Es gibt beispielsweise keine Regeln, wenn Journalist:innen wie Dunja Hayali von einer rechtsradikalen Kampagne mit Gewaltandrohungen überhäuft werden.

Waslat Hasrat-Nazimi: Gesetzgebung ist das eine. Das andere ist, dass wir es so weit haben kommen lassen, dass rechte Akteur:innen wissen, dass ihre Methoden erfolgreich sind. Denn selbst wenn es von außen so aussieht, stellen sich Medienhäuser nicht immer hinter ihre Mitarbeitenden. Gerade jetzt, wo sich viele Unternehmen von Diversity-Initiativen abwenden und dem Druck aus den Vereinigten Staaten nachgeben, ist es wichtig, dass Unternehmen Haltung zeigen und klar Stellung für Vielfalt und Demokratie beziehen.

herCAREER: Wir haben jetzt über politische und institutionelle Aspekte gesprochen. Was können Leser:innen tun, um Menschen mit migrantischer Geschichte zu unterstützen und Rechtsextremismus entgegenzutreten?

Es gibt so viel mehr, was man tun kann, als zu demonstrieren. Es ist wichtig, im Alltag aufzustehen, wenn man Ungerechtigkeit und Rassismus miterlebt. Noch immer haben viele Menschen Angst und mischen sich nicht ein. Man kann sich für verschiedene Organisationen engagieren oder Abgeordnete anschreiben und sie bitten, sich für antirassistische und antidiskriminierende Maßnahmen einzusetzen. Und das Allerwichtigste ist natürlich, wählen zu gehen. Wir müssen uns bewusst sein, was alles auf dem Spiel steht. Und das nicht nur für Menschen mit Migrationsgeschichte, sondern für alle.

herCAREER: Eine der Visionen in dem Buch ist ein Demokratiefördergesetz. Was würde das beinhalten?

Es gibt tolle Organisationen, die wichtige Arbeit leisten, aber chronisch unterfinanziert sind. Ein Demokratiefördergesetz würde entsprechende Budgets mit sich bringen. Außerdem: Viele der aktuellen Programme haben Laufzeiten von ein oder zwei Jahren – ein Gesetz könnte zu langfristigeren Projekten und nachhaltigen Synergien führen. Für eine wehrhafte Demokratie müssen wir präventiv gegen jegliche Art von (neuer) Radikalisierung vorgehen. Das bedeutet politische Bildung für alle, systematische Medienaufklärungsarbeit und gezielte Deradikalisierung – und zwar bei islamistischer und rechter Radikalisierung gleichermaßen.

herCAREER: Zusammenfassend: Ist die Aussage „Unsere Koffer sind gepackt“ ein Ausblick oder ein Anzeichen von Resignation?

Für mich ist es eine Warnung. Menschen verlassen Deutschland, andere erwägen, nicht mehr herzukommen. Ob die Koffer metaphorisch gepackt sind oder real im Hausflur stehen – das Gefühl ist echt. Und die Konsequenzen wären fatal: für die Gesellschaft, die Demokratie und die Wirtschaft. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was es für unsere Gesellschaft bedeuten würde, wenn migrantische oder queere Menschen wirklich gehen müssten.

herCAREER: Wir uns auch nicht.

Das Gespräch führte herCAREER Redakteurin Kristina Appel.

Bild: Waslat Hasrat-Nazimi Journalistin, Autorin und Moderatorin Head of Afghan, Service Deutsche Welle © Julia Sellmann Photography

Waslat Hasrat-Nazimi wird am Donnerstag, den 9. Oktober auf der herCAREER Expo 2025 mit Kristina Appel an dieses Interview anschließen und über die Vision einer demokratischen, inklusiven Zukunft für Deutschland sprechen.

Quelle messe.rocks GmbH

StartupValley
StartupValley
Das StartupValley Magazin ist Europas großes Magazin für Start-ups, Gründer und Entrepreneure. Ihr findet bei uns Tagesaktuelle News zu den neuesten Trends, Technologien und Geschäftsmodellen der internationalen Startup-Szene sowie Interviews mit erfolgreichen Gründern und Investoren.
- Advertisement -

StartupValley WhatsApp

Sei immer einen Schritt voraus! Tägliche Updates: Events, Termin & echte Insider-Tipps – direkt in dein WhatsApp!

StartupValley Newsletter

Erhalte regelmäßig die wichtigsten internationalen Startup-News in dein Postfach!

PREMIUM STARTUPS

Neueste Beiträge

Premium Events

spot_img
spot_img
spot_img
spot_img
spot_img

Das könnte dir auch gefallen!

StartupValley Newsletter

Erhalte regelmäßig die wichtigsten internationalen Startup-News in dein Postfach!