Donnerstag, Juli 3, 2025
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Tessa Clarke über Olio, Food Sharing und Impact-Gründung

Lebensmittel wegzuwerfen bedeutet, Ressourcen zu verschwenden – und letztlich ein Stück unserer Zukunft.

Tessa Clarke hat das früh verstanden. Aufgewachsen auf einem Bauernhof im ländlichen North Yorkshire, sah sie hautnah, wie viel Arbeit in jedem Bissen steckt. Doch der entscheidende Moment kam Jahre später: ein Neugeborenes auf dem Arm, eine Kiste mit übriggebliebenem Essen in der Hand – und keine einfache Möglichkeit, die Lebensmittel vor dem Umzug weiterzugeben. Aus diesem frustrierenden Erlebnis entstand die Idee für OLIO – eine App, die heute weltweit gegen Lebensmittelverschwendung kämpft. Im Gespräch erzählt Tessa, wie sie vom Konzernleben zur Impact-Gründerin wurde, welche Lektionen sie gelernt hat – und warum Menschen zum Teilen zu inspirieren wirkungsvoller sein kann als Appelle in Sachen Klimaschutz.

Fangen wir ganz am Anfang an – was hat dein Interesse am Thema Lebensmittelverschwendung überhaupt geweckt?

Tessa Clarke: Ich bin die Tochter eines Landwirts aus North Yorkshire in England. Deshalb hatte ich schon früh großen Respekt vor der Arbeit, die in der Erzeugung unserer Lebensmittel steckt. Durch meine Kindheit habe ich auch eine starke Verbindung zur Umwelt und erkenne, wie wichtig es ist, im Einklang mit der Natur zu leben. Mein Studium der Sozial- und Politikwissenschaften in Cambridge, später das MBA-Programm an der Stanford University – all das hat wohl dazu geführt, dass ich das Potenzial von Wirtschaft nutzen wollte, um systemische Veränderungen im Umweltbereich voranzutreiben. Es hat nur zwei Jahrzehnte gedauert, bis ich verstanden habe, wie ich das konkret umsetzen kann.

Gab es einen „Aha-Moment“?

Tessa Clarke: Ja, absolut. Der kam, als ich nach längerer Zeit im Ausland zurück nach Großbritannien zog. Am Umzugstag sagten mir die Möbelpacker, dass ich alle übrig gebliebenen Lebensmittel wegwerfen müsse. Ich konnte das einfach nicht tun – also nahm ich mein Baby und mein Kleinkind und lief mit einer Kiste Essen durch die Straßen, in der Hoffnung, jemandem etwas davon geben zu können. Ich bin kläglich gescheitert. Also schmuggelte ich, während die Umzugshelfer nicht hinsahen, die haltbaren Lebensmittel in den untersten Umzugskarton. Da wurde mir klar: Es müsste eine App geben, die das Teilen von Lebensmitteln viel einfacher macht.

Gab es in deiner Kindheit frühe Einflüsse, die deinen Sinn für Nachhaltigkeit und Gemeinschaft geprägt haben?

Tessa Clarke: Auf einem Bauernhof aufzuwachsen, hat mir Respekt für Natur, Lebensmittel und harte Arbeit vermittelt. Meine Eltern gehörten der Nachkriegsgeneration an, sie dachten noch in Rationierungen. Ich bin mit einem sehr sparsamen Lebensstil aufgewachsen – der Satz „Wer nichts verschwendet, hat später genug“ hat sich tief eingeprägt.

Du hast zuvor in großen Unternehmen gearbeitet – warum der Schritt in die Selbstständigkeit?

Tessa Clarke: Ich war fast zwanzig Jahre in Strategie- und Managementpositionen in den Bereichen Einzelhandel, Medien und Finanzdienstleistungen. Auf dem Papier sah das alles gut aus, aber es hat mich nicht erfüllt. Ich wollte lange etwas Eigenes starten, aber zwei Dinge hielten mich ab: Ich hatte keine „Idee“ – und keinen Glauben an mich selbst. Beides änderte sich, als mir beim Umzug die Dimension des Problems Lebensmittelverschwendung bewusst wurde – und als meine Mitgründerin Saasha bereit war, diesen verrückten Weg gemeinsam zu gehen. Mein Rat an alle: Sucht euch ein Problem, das euch wirklich bewegt – und wenn möglich, eine Partnerin oder einen Partner, mit dem ihr es gemeinsam angehen könnt.

Welche Eigenschaften oder Gewohnheiten waren für dich als Gründerin entscheidend?

Tessa Clarke: Durchhaltevermögen und Anpassungsfähigkeit – man muss bereit sein, ständig zu testen, zu messen, zu lernen und weiterzuentwickeln. Ich habe mir zudem eine tägliche Struktur aufgebaut, die meine mentale und körperliche Widerstandskraft stärkt: Ich blocke mir die erste Stunde des Tages für Sport, achte auf Schlaf und gesunde Ernährung. So kann ich Herausforderungen aktiv begegnen. Und: Unsere Mission motiviert mich zutiefst – Scheitern ist keine Option.

Olio ist heute eine globale Bewegung – wie bewahrst du bei Wachstum und Expansion den ursprünglichen Geist?

Tessa Clarke: Zwei Dinge sind dafür essenziell. Erstens: Alle, mit denen wir arbeiten – ob Mitarbeitende, Partner oder Investoren – müssen nicht nur „missionsaligned“, sondern „missionsbesessen“ sein. Das ist ein deutlich höherer Anspruch, aber entscheidend. Zweitens: Unsere Unternehmenswerte – „inclusive“, „caring“, „resourceful“ und „ambitious“ – fließen in alles ein: von der Personalwahl über Feedbackgespräche bis hin zu operativen Entscheidungen. Wenn das sitzt, folgt der Rest.

Was waren die größten Herausforderungen in der Anfangszeit von Olio – und wie hast du sie gemeistert?

Tessa Clarke: Eine der größten Hürden war es, ohne Marketingbudget Aufmerksamkeit zu bekommen. Unsere Lösung: das Ambassador-Programm. Wir haben engagierte Freiwillige gewonnen, die Olio bekannt machen – heute kommen über 50 % unserer monatlichen Nutzer durch Mundpropaganda.
Auf persönlicher Ebene war das erste Jahr extrem hart: Ich leitete Olio remote, mit Baby und Kleinkind, arbeitete nebenbei als Beraterin für Einkommen – und hatte keine Kinderbetreuung. Es war nicht nachhaltig. Ich musste mir feste Strukturen schaffen, um nicht durchzudrehen. Ich habe gelernt: Unternehmertum ist ein Marathon – oder besser: viele aufeinanderfolgende Marathons. Resilienz ist der Schlüssel.

Was würdest du rückblickend am Tag eins von Olio anders machen?

Tessa Clarke: Zwei Dinge, beide betreffen die Haltung. Erstens: Ich wünschte, ich hätte früher begriffen, dass es keine Wunderlösung gibt. Ich habe zu viel Hoffnung in die nächste Funktion, die nächste Person, das nächste Fundraising gelegt – in der Hoffnung auf exponentielles Wachstum. Tatsächlich entsteht nachhaltiges Wachstum durch Tausende kleiner Schritte, Tag für Tag.
Zweitens: Ich hätte meine Idealvorstellungen schneller abgelegt. Menschen oder Unternehmen sollten zwar X oder Y tun – aber Verhaltensänderung ist schwer. Man muss die Leute da abholen, wo sie stehen. Ein Beispiel: Wir sprechen heute viel weniger über Klima- und Umweltaspekte und mehr darüber, was Menschen konkret davon haben. Für Privatnutzer ist es das gute Gefühl, etwas zu teilen und der Community zu helfen. Für Unternehmen ist es ein klarer Business Case – also haben wir zusätzliche Angebote geschaffen, mit denen sie durch überschüssige Lebensmittel Umsatz generieren können.

Welche Missverständnisse gibt es rund um Lebensmittelverschwendung oder Sharing-Apps wie Olio?

Tessa Clarke: Ein verbreiteter Irrtum: Die meiste Lebensmittelverschwendung findet im Supermarkt statt. In Wahrheit entsteht in Ländern wie Großbritannien über die Hälfte zu Hause – der Einzelhandel macht nur rund 2 % aus. Das überrascht viele.
Der zweite Irrtum: „Das will doch eh keiner haben.“ Falsch – ein typisches Lebensmittelangebot auf Olio wird innerhalb von 30 Minuten angefragt, andere Haushaltsgegenstände innerhalb von vier bis sechs Stunden.

Wie gehst du bei der Personalauswahl vor und wie entsteht eine wertebasierte Unternehmenskultur?

Tessa Clarke: Von Anfang an haben wir unsere vier Werte – „inclusive“, „resourceful“, „caring“ und „ambitious“ – in Bewerbungsprozesse und Performance-Reviews integriert. Sie prägen unsere Kultur und definieren, wer gut zu Olio passt.
Als Remote-First-Unternehmen prüfen wir außerdem sehr genau, ob diese Arbeitsweise wirklich zur Kandidatin oder zum Kandidaten passt.

Was hast du über dich selbst gelernt, während du ein wachsendes Unternehmen leitest?

Tessa Clarke: Wie viele Gründerinnen neige ich dazu, mich zu sehr auf das zu konzentrieren, was noch nicht erreicht ist – und feiere Erfolge zu selten. Ich musste lernen, kein schlechtes Gewissen zu haben, dass Olio klar Gründerinnen-geprägt ist. Das heißt nicht, dass ich alles micromanage, aber wir achten sehr genau auf Details und setzen hohe Standards.

Wie triffst du schwierige Entscheidungen – besonders, wenn Mission und Geschäftserfolg kollidieren?

Tessa Clarke: Bei Olio sehen wir Mission und Finanzen nicht als Gegensätze, sondern als sich gegenseitig stärkend. Unser Geschäftsmodell basiert auf der Zusammenarbeit mit Unternehmen, die durch uns ihre Lebensmittelverschwendung reduzieren – damit schaffen wir Wirkung und Umsatz zugleich. Wir sind bewusst ein gewinnorientiertes Unternehmen und B Corp – weil wir glauben, dass Purpose und Profit zusammengehören.
Wenn harte Entscheidungen anstanden, etwa Restrukturierungen, war es entscheidend, dem Team offen die Hintergründe zu erklären. Nur so verstehen sie die Entscheidung – und das Unternehmen kann sich schneller erholen.

Nachhaltigkeit steht im Zentrum von Olio – wie vermeidet ihr „Green Fatigue“ oder leere Öko-Versprechen?

Tessa Clarke: Erstens: Wir sprechen über Nachhaltigkeit auf greifbare Weise. Statt CO₂-Einsparungen in Tonnen nennen wir beispielsweise, wie viele Autokilometer wir dadurch eingespart haben – das ist für viele zugänglicher.
Zweitens: Wir sprechen mindestens genauso viel über soziale Wirkung wie über ökologische. Die Menschen lieben es zu hören, dass wir über 50 Millionen Haustürkontakte ermöglicht haben, dass 65 % unserer Community über Olio neue Freundschaften geschlossen haben, dass drei Viertel sagen, das Teilen habe ihre mentale Gesundheit verbessert – und 84 % berichten von einem finanziellen Gewinn.

Wie bringst du Idealismus und Pragmatismus unter einen Hut, wenn man die Welt retten will?

Tessa Clarke: Um ehrlich zu sein: Anfangs waren wir da nicht besonders gut. Wir sahen ein riesiges, existenzielles Problem – hatten eine brillante Lösung – und dachten, die Welt würde sie sofort übernehmen. Tatsächlich haben wir erlebt, wie mächtig bestehende Anreizsysteme sind, wie dominant das Profitstreben bleibt und wie schwer sich Verhaltensänderung durchsetzen lässt.
Heute sind wir deutlich pragmatischer. Denn es bringt nichts, idealistisch perfekt – aber tot zu sein. Dann bewirkt man gar nichts. Deshalb bleiben wir unserer Mission und unseren Werten treu, versuchen aber, Menschen dort abzuholen, wo sie stehen. Denn etwas Wirkung ist besser als keine.

Olio ermöglicht inzwischen nicht nur Lebensmitteltausch. Wohin geht die Reise der Circular Economy?

Tessa Clarke: Wir glauben, dass Nachbarschaften zu den neuen Marktplätzen werden sollten. In einem Umkreis von zehn Minuten um dein Zuhause lagern wahrscheinlich eine Milliarde ungenutzter Gegenstände. Unsere Vision ist es, den Zugang dazu zu ermöglichen – durch einfaches, sicheres, sinnstiftendes Teilen, Leihen oder Tauschen. Das geht weit über Lebensmittel hinaus.

Wo siehst du dich persönlich in fünf Jahren – und wo steht Olio dann?

Tessa Clarke: Dieses Jahr feiern wir zehn Jahre Olio – und was ich in dieser Zeit gelernt habe: Fünfjahrespläne klingen gut, sind aber oft Illusion.
Unser Ziel bleibt: eine Welt, in der Millionen Menschen vernetzt sind, damit Ressourcen genutzt und geteilt werden – statt im Müll zu landen. Dafür haben wir das C2C-Modell von Lebensmitteln auf Haushaltsgegenstände ausgeweitet und planen, perspektivisch auch Vermietungen anzubieten.
Im B2B-Bereich helfen wir Unternehmen, ihre überschüssigen Lebensmittel besser zu vermarkten, bevor sie sie weitergeben. Und wir schauen uns auch andere Bereiche der Wertschöpfungskette an. International ist Olio inzwischen in über 60 Märkten aktiv – und wir bauen das weiter aus.

Siehst du Olio als Modell auch für andere globale Herausforderungen – etwa Modeverschwendung oder lokale Resilienz?

Tessa Clarke: Ja. Das Grundprinzip – lokale Communities durch Technologie, Freiwilligen-Netzwerke und Unternehmenspartnerschaften zu verbinden – funktioniert auch außerhalb des Lebensmittelbereichs. Wir verbessern die lokale Widerstandsfähigkeit massiv, indem wir Verschwendung aus dem System holen. Einige Regierungen sind bereits auf uns zugekommen, weil sie damit die Ernährungssicherheit in ihrem Land stärken wollen.

Welche Rolle spielt Technologie beim Aufbau nachhaltiger Communities?

Tessa Clarke: Technologie ist der Schlüssel: standortbezogene Services, mobile Interfaces, Algorithmen zur Bedarfsabstimmung – all das ist essenziell für die optimale Nutzung lokaler Ressourcen. Wir nutzen auch gezielt Automatisierung und KI, um unsere Prozesse zu skalieren.
Mindestens genauso wichtig sind aber die Werte und Regeln, mit denen wir unsere Community managen – damit Peer-to-Peer-Interaktionen zuverlässig, freundlich und vertrauensvoll bleiben.

Welchen Rat gibst du Menschen, die ein großes, globales Problem lösen wollen?

Tessa Clarke: Hört auf, nach großen Ideen zu suchen. Fangt mit einem realen Problem an, das euch wirklich bewegt. Testet, lernt, entwickelt weiter. Bleibt fokussiert auf die Mission – und wachst mit Bedacht.

Was hilft dir, motiviert und geerdet zu bleiben, wenn alles zu viel wird?

Tessa Clarke: Struktur im Alltag. Und neue Kraft ziehe ich nicht nur aus Sport, Schlaf und Ernährung, sondern auch aus dem Wissen, welchen positiven Effekt wir täglich haben – auf menschlicher Ebene.

Und zum Schluss: Was kann jeder Einzelne heute tun, um nachhaltiger zu leben?

Tessa Clarke: Am einfachsten: Fang mit deinem Teller an – und wirf kein Essen weg. Weltweit verursacht Lebensmittelverschwendung rund 10 % der Treibhausgasemissionen. In Industrieländern geschieht über die Hälfte davon zu Hause. Wer Essen nicht verschwendet, schützt Wasser, Böden, Biodiversität, das Klima – und die Gemeinschaft. Und generell gilt: mehr teilen, weniger verschwenden.

Foto/Quelle: Olio – Annabel Staff

Markus Elsässer
Markus Elsässer
Markus Elsässer ist Gründer und Herausgeber des StartupValley Magazins und unterstützt mit seiner langjährigen Erfahrung Gründer und Start-ups mit praxisnahen Strategien und innovativen Lösungsansätzen. Neben der Organisation von Start-up-Events und Investitionen in zukunftsweisende Projekte begleitet er nun mit seinem Team den Umstieg von Verbrenner auf Elektromobilität im neuen Elektroauto-Magazin eAUTO Einsteiger – sowohl redaktionell als auch auf YouTube.
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