Im Gespräch mit Lucanus Polagnoli, Gründer und Managing Partner von Calm/Storm Ventures, werfen wir einen Blick darauf, wie sich Europas digitale Gesundheitslandschaft durch gezielte Frühphasen-Investments verändert – lange bevor es dafür etablierte Märkte gibt.
Sie investieren mit Calm/Storm in Startups, lange bevor es etablierte Märkte dafür gibt. Was reizt Sie an dieser Art von Frühphasen-Investments?
Lucanus Polagnoli : Der Reiz liegt darin, schon heute dabei zu sein, wenn die Lösungen von morgen gebaut werden. Gleichzeitig ist genau dort die Hebelwirkung am größten. Wir investieren in Teams, die Produkte und Lösungen bauen für Märkte, die ganz neu sind oder die es noch gar nicht gibt. Dabei versuchen die Gründer:innen ganz einfach die Probleme von heute zu lösen – regulatorische, strukturelle oder gesellschaftliche. Unsere These: Je relevanter das Problem ist und je besser die (digitale) Problemlösung, desto wahrscheinlicher wird dafür ein neuer Markt entstehen und gleichzeitig gestalten wir damit die Zukunft mit.
Welche Rolle spielt Intuition im Vergleich zu Daten, wenn Sie in digitale Gesundheitslösungen investieren?
Lucanus Polagnoli : Wir treffen keine Entscheidungen “blind”, aber in der Frühphase gibt es naturgemäß wenig belastbare Daten. Was wir analysieren, ist der sogenannte “Founder-Market-Fit”: Wie tief versteht das Team das Problem? Wie glaubwürdig ist ihre Vision? Wie gut passt ihre Historie zur Vision? Das sind oft qualitative Daten, aber am Ende sind es diese Fragen, auf die wir eine besonders gute Antwort haben möchten, um zu investieren.
Der Bereich Digital Health ist in Europa komplex – regulatorisch, strukturell und kulturell. Warum lohnt es sich trotzdem, genau hier Frühphasen-Risiken einzugehen?
Lucanus Polagnoli : Weil die größten Probleme auch die größten Chancen bergen. Unsere Gesundheitssysteme leiden unter Fragmentierung, Fachkräftemangel und veralteter Infrastruktur. Wer es hier schafft, schafft es überall. Viele unserer Portfolio-Unternehmen starten in Europa und skalieren dann global, denn “Diabetes” hört nicht an der Grenze auf. Gesundheitsthemen sind universell. Spannend ist: In den USA ist es nicht besser. Aus struktureller Sicht ist der Markt dort auch ein “Chaos”.
In welchen entstehenden Märkten oder Technologien sehen Sie derzeit die größten Chancen für nachhaltige Gesundheitsinnovationen?
Lucanus Polagnoli : Wir sehen großes Potenzial dort, wo strukturelle Versorgungsengpässe auf technologische Hebel treffen. Das sind beispielsweise die Allgemeinmedizin im ländlichen Raum (Lillian Care), gestiegene Aufmerksamkeit für die ganzheitliche Vorsorge (AEON) oder die Automatisierung von Administration in Kliniken oder Praxen (Nelly). Außerdem beobachten wir einen massiven Aufschwung bei KI in der klinischen Entscheidungsunterstützung und Infrastruktur.
Calm/Storm versteht sich als Seismograf für Gesundheitsmärkte. Welche Frühindikatoren beobachten Sie, um Trends frühzeitig zu erkennen?
Lucanus Polagnoli : Wir investieren sehr früh und sehr gezielt – und zwar nur in Software, nur in Health, nur in Europa. Unser Portfolio ist dadurch gleichzeitig extrem fokussiert (eben nur eine Industrie und ein eingeschränkter geografischer Raum) und aber dann auch extrem breit innerhalb dieser Nische gestreut. Wer unsere Investments verfolgt, sieht quasi einen Querschnitt der europäischen Gesundheitsmärkte und deren Innovation bzw. Digitalisierung.
Sie sprechen davon, dass neue Gesundheitsmärkte entstehen, bevor Systeme oder Krankenkassen reagieren. Wie erkennen Sie solche Lücken im System?
Lucanus Polagnoli : Wir beobachten nicht die Systeme, sondern vor allem die Menschen: Patient:innen, Pflegekräfte, Ärzt:innen. Ihre Frustration, ihr Verhalten, ihre Ausweichstrategien. Daraus entstehen Opportunitäten. Wenn Männer beispielsweise lieber anonym online Hilfe suchen als zum Arzt zu gehen, weil es sich um ein “Tabuthema” handelt. Gerade dann investieren wir in Produkte und Lösungen für dieses Thema (Everyman).
Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz in der nächsten Welle digitaler Gesundheitslösungen – und worauf achten Sie bei Investments in diesem Bereich?
Eine zentrale. Aber nicht dort, wo alle hinschauen. KI ist in der Versorgung wichtig – z. B. als klinische Entscheidungshilfe – aber im Moment liegt der größte Hebel in der Infrastruktur: Verwaltung, Abrechnung, Kommunikation, Ressourcenplanung. Hier ist KI oft der Produktivitätsbooster, der das System entlastet.
Können Sie uns Einblicke in Ihr Portfolio geben: Welche Thesen haben sich bestätigt – und wo lagen Sie daneben?
Lucanus Polagnoli/ Calm/Storm Ventures: Falsch lag die Branche mit der Hoffnung, dass DIGAs massenhaft verschrieben werden. Was sich aber bestätigt hat: Menschen sind bereit, selbst für gute Gesundheitslösungen zu zahlen. Das gilt insbesondere im Wellbeing- und Longevity-Bereich. Viele Lösungen funktionieren direkt im B2C besser als über die Krankenkassen.
Wie hoch ist die Series-A-Quote bei Ihren Investments – und was sagen diese Zahlen über die Marktreife digitaler Health-Startups aus?
Lucanus Polagnoli/ Calm/Storm Ventures: In den letzten 24 Monaten haben neun unserer Startups eine Series A abgeschlossen, zwei weitere eine Extension. Für einen Frühphasenfonds wie uns ist das eine starke Quote – gerade im Digital-Health-Bereich, wo die Kapitalmärkte besonders selektiv agieren. Es zeigt, dass Investoren dann bereit sind, auch große Summen zu investieren, wenn die Unternehmen funktionierende Produkte für „große“ Probleme bauen können.
Gibt es spezifische Regionen oder Länder in Europa, in denen Sie besonders viel Innovationspotenzial sehen?
Lucanus Polagnoli/ Calm/Storm Ventures: Innovation kommt nicht nur aus Berlin oder London. Wir sehen starke Teams aus dem Baltikum, aus Spanien, der Schweiz, den Nordics. Diese Regionen werden oft unterschätzt, die Gründer:innen arbeiten aber extrem lösungsorientiert. Entscheidend ist nicht der Standort, sondern die Tiefe des Problemverständnisses. Und da schneiden osteuropäische Teams genauso gut ab wie westeuropäische. Wir würden genauso in ein Team aus Portugal investieren wie in ein Team aus dem Wallis.
Was müssen Gründer*innen im Digital-Health-Sektor mitbringen, damit Sie sich für ein Investment interessieren?
Lucanus Polagnoli/ Calm/Storm Ventures: Wir suchen Gründer:innen, die ihr eigenes Problem lösen wollen und nicht glauben wollen, dass es dafür einfach keine schnelle/digitale Unterstützung gibt. Dafür brauchen sie gar keine spezifischen (Industrie-)Vorkenntnisse. Gleichzeitig suchen wir aber auch jene, die vielleicht jahrelange Branchenerfahrung mitbringen und dabei erkannt haben, wo digitale Lösungen den größten Nutzen bringen könnten.
Frühphasen-Investment ist ein Blick in die Zukunft. Wohin entwickelt sich Europas Gesundheitsmarkt in den nächsten fünf Jahren?
Lucanus Polagnoli/ Calm/Storm Ventures: Auch wenn unsere Systeme eher träge sind, die Bedürfnisse der Menschen ändern sich rasant. Wir sehen eine starke Zunahme von “Selbstzahlermärkten”, also großes Potential für “Out-of-Pocket”-Lösungen. Gleichzeitig übernehmen die Menschen deutlich mehr Eigenverantwortung in der Vorsorge und sie haben eine Aufmerksamkeit für Gesundheitsthemen im Allgemeinen. Da hat COVID sicher eine Rolle gespielt, aber auch Social Media, wo leider auch ganz viel Fehlinformation verbreitet wird. Und wir sehen neue, heute noch “unsichtbare” zukünftige Marktführer in Marktnischen. Wir glauben, dass dies der Schlüssel für den Erfolg in der digitalen Gesundheitsbranche sein wird: Eine spezielle Lösung so gut zu entwickeln, dass man quasi zum Monopolisten in seiner Nische wird.
Bild Lucanus Polagnoli @ Fotograf Klaus Vyhnalek
Wir bedanken uns bei Lucanus Polagnoli für das Interview
Aussagen des Autors und des Interviewpartners geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion und des Verlags wieder.