Sonntag, November 17, 2024
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Verena Bentele auf der herCAREER 2024

Verena Bentele: „Wir brauchen einen Leistungsbegriff, der nicht nur für Spitzenverdiener oder Spitzensportler Medaillen bereithält“

Frauen sind im Alter schlechter abgesichert als Männer. Betriebliche Altersvorsorge bleibt oft Besserverdienenden vorbehalten und die Wirtschaft wird kaum in die Pflicht genommen. Verena Bentele ist Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland und erlebt täglich, wie unterschiedlich Arbeitsleistung in unserer Gesellschaft bewertet wird – und wie sich das auf die Renten der Bürger*innen auswirkt. Was läuft falsch und wie könnte Verteilungsgerechtigkeit aussehen, damit Deutschland sich nicht weiter spaltet?

„Zu viele Frauen sind von Altersarmut betroffen“

herCAREER: Rente soll die „Lebensarbeitsleistung“ honorieren. Was assoziierst du als ehemalige professionelle Sportlerin mit dem Begriff Leistung?

Verena Bentele: Für mich persönlich ist Leistung etwas Tolles, etwas Schönes. Als jemand, die nicht sieht, habe ich früher oft erlebt, dass man mir nicht viel zugetraut hat. Deshalb war Sport für mich immer eine schöne Möglichkeit zu zeigen, dass Leistung einerseits viel mit Willen, mit Mut, mit eigener Motivation und mit Fleiß zu tun hat. Andererseits aber auch viel mit Unterstützung und Förderung.

herCAREER: Sportliche Leistungen lassen sich durch Training steigern. Wie verhält sich das im politischen System?

Hier gibt es zum Teil gravierende Unterschiede. Talent ist wichtig und muss erkannt werden. Im Sport kann man mit gezieltem Training und einem starken Willen sehr viel erreichen. In der Politik ist das teils anders, weil die Einflüsse von außen eine riesige Rolle spielen. Beamt*innen bekommen zum Beispiel eine viel höhere Pension als Angestellte. Ich und vor mir schon viele andere kämpfen dafür, dass nicht Beamt*innen weniger, sondern alle mehr Rente erhalten. Obwohl die Motivation Vieler für diese Veränderung riesig ist, haben wir das Ziel noch nicht erreicht.

herCAREER: Wenn wir über Rente sprechen, müssen wir also auch über die Bewertung von Arbeit an sich sprechen?

Verena Bentele: Ja. Ist es zum Beispiel gerecht, dass ein Vorstandsvorsitzender 500-mal so viel verdient wie seine Mitarbeitenden? Nein, denn er kann unmöglich das 500-fache ihrer Arbeit leisten. Ein Fußballspieler verdient das Vielfache eines*r Bundeskanzler*in. Diese Beispiele könnte ich ergänzen mit Personen aus dem Niedriglohnbereich: Menschen, die zum Mindestlohn arbeiten, sind für die Gesellschaft wichtig, sei es in der Logistik, in der Gastronomie oder in anderen Bereichen, aber ihr Lohn spiegelt das nicht wider. Ich glaube, dass wir diese Diskussion in unserer Gesellschaft viel zu wenig führen.

herCAREER: Was ist mit der Leistung, die von einem Großteil der Gesellschaft als selbstverständlich angesehen wird – der unbezahlten Sorgearbeit?

Es gibt beispielsweise die Mütterrente, die die unbezahlte Erziehungsarbeit anerkennen soll, aber aus meiner Sicht ist sie noch nicht leistungsgerecht, genauso wie die Entlohnung für den hohen Arbeitsaufwand bei der Pflege von Angehörigen. Zu viele Frauen sind von Altersarmut betroffen. Vor allem alleinerziehende Frauen haben geringere Chancen auf eine gute Rente. Hier zeigt sich, wie wenig sich essenzielle gesellschaftliche Leistungen in Form von Kindererziehung und Pflege von Angehörigen auf die Existenzsicherung auswirken.

herCAREER: Es entsteht der Eindruck, dass unser Rentensystem die Spaltung fördert. Die Kluft zwischen Gutbezahlten und Unterbezahlten wird im Rentenalter noch größer. Stimmt das?

Verena Bentele: Ja. Unser Drei-Säulen-System aus betrieblicher Altersvorsorge, gesetzlicher Pflichtversicherung und privater Vorsorge steht nicht allen zur Verfügung. Längst nicht alle Unternehmen bieten eine betriebliche Altersvorsorge an und in den Betrieben, die sie anbieten, verdienen die Arbeitenden oft ohnehin meist nicht schlecht. Gerade die Menschen, die besser verdienen, haben mehr Möglichkeiten, zum Beispiel Kinderbetreuung zu bezahlen und mehr zu arbeiten, somit mehr Rente und Rücklagen zu erwirtschaften. Personen, die gesellschaftliche Aufgaben in Form von unbezahlter Care-Arbeit übernommen haben, sind bei der Alterssicherung stark benachteiligt. Arme Menschen leben im Schnitt außerdem kürzer als Wohlhabende, auch das macht das System unfair.

herCAREER: Das hat gerade wieder eine Studie des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) gezeigt. Das Haushaltseinkommen beeinflusst sowohl die Gesundheit, als auch die Lebenserwartung von Frauen und insbesondere von Männern.

Deshalb ärgert mich die Forderung, die Menschen sollten einfach länger arbeiten. Denn dann müsste sich das Renteneintrittsalter theoretisch nach Branchen und Berufen richten. Wenn ein Professor im Durchschnitt etwa vier Jahre länger lebt als ein Dachdecker und sie zur gleichen Zeit in Rente gehen, war der Dachdecker ein Leben lang finanziell benachteiligt und kann darüber hinaus vier Jahre weniger von seiner erarbeiteten Rente profitieren.

herCAREER: Es heißt immer: „Du musst privat vorsorgen“. Wie beurteilst du das Zusammenspiel von privater und gesetzlicher Altersvorsorge?

Wir als VdK haben natürlich nichts dagegen, wenn Menschen privat vorsorgen. Das sollen sie gerne tun. Aber für zu viele Menschen ist das einfach nicht möglich. Wenn eine Studentin in München 1.200 Euro für 22 Quadratmeter Wohnfläche ausgeben muss, wenn die Inflation die Preise für Obst, Gemüse und gesunde Lebensmittel in die Höhe treibt, dann haben Menschen in den unteren Lohngruppen keine Chance, privat vorzusorgen. Von privater Vorsorge profitieren wieder nur die, die finanziell gut gestellt sind.

herCAREER: Wir erleben eine große Angst der Privilegierten, dass ihnen etwas weggenommen wird, wenn wir das gesellschaftliche Spielfeld angleichen wollen. Wäre das wirklich so, oder muss man vielmehr sagen: Wenn die, die viel haben, nur wenig an die Gemeinschaft abgäben, könnten die, die wenig haben, viel gewinnen?

Verena Bentele: So kann man es formulieren, ja. Wir habend diese Gegenwehr zuletzt bei der Kürzung des Elterngeldes ab einem Jahreseinkommen von 180.000 Euro erlebt und sehen es bei der Diskussion um die Vermögenssteuer. Wir als VdK haben auch immer wieder eine Vermögensabgabe gefordert, denn Herkunft, Bildungsstand und finanzielle Situation der Eltern haben großen Einfluss auf die Chancen der Kinder. Verteilungsgerechtigkeit würde bedeuten, dass man mit einer Vermögensabgabe etwa auch arme Kinder und Jugendliche durch bessere Bildungschancen unterstützt, die nachweislich selbst nichts an ihrer Situation ändern können.

herCAREER: Du nimmst die Politik sehr stark in die Pflicht. Wie sieht es mit der Pflicht der Unternehmen aus, die ja maßgeblich an den Menschen verdienen?

Es gäbe verschiedene Möglichkeiten. Es beginnt damit, dass Unternehmen sowohl Berufsanfänger*innen, als auch älteren Mitarbeitenden mehr Chancen geben sollten. Man muss sie aber auch über Steuern in die Pflicht nehmen. Es gibt immer mehr Unternehmen, die mit immer weniger Leuten gute Gewinne machen – gerade im digitalen Bereich und durch den digitalen Fortschritt. Ich wäre sehr dafür, dass diese Unternehmen mehr Steuern zahlen, damit sich der Staat zum Beispiel Zuschläge bei niedrigen Renten leisten kann. Es muss ohnehin etwas passieren, denn die Unternehmen profitieren stark vom Sozialstaat, zum Beispiel durch das Kurzarbeitergeld während der Pandemie.

herCAREER: Was machen andere Länder bei der Rente besser?

In Österreich zum Beispiel sind alle in die Rentenversicherung einbezogen: Beamtinnen und Beamte, Selbstständige, Abgeordnete. Natürlich nicht von heute auf morgen, sondern mit einer langen Übergangsfrist. Alle müssen einzahlen. Sie zahlen länger ein als in Deutschland, um Ansprüche zu erwerben, haben aber auch ein deutlich höheres Rentenniveau.

herCAREER: Was wäre denn dein Wunsch für eine gerechtere Rente in Deutschland?

Verena Bentele: Dass wirklich alle Erwerbstätigen einzahlen und damit die Rente für alle sichern. Und dass wir die Rentenversicherung durch Steuerzuschüsse für Witwen- und Waisenrente, Mütterrente und Erwerbsminderungsrente sicherstellen.

herCAREER: Und dein Wunsch für den Leistungsbegriff in Deutschland?

Ich wünsche mir wirklich sehr, dass wir Leistung neu bewerten, indem wir die Menschen, die sich für die Gesellschaft einbringen, indem sie Kinder erziehen und Angehörige pflegen, besser absichern. Wir müssen bestimmte Leistungen mehr respektieren und honorieren, aber wir brauchen auch ein Stück weit einen neuen oder zumindest einen Leistungsbegriff, der eben nicht nur für Spitzenverdiener in Führungspositionen oder für Spitzensportler Medaillen bereithält.
Das Gespräch führte herCAREER-Redakteurin Kristina Appel.

Bild: Verena Bentele Präsidentin des Sozialverband VdK Deutschland e.V., Vize-Präsidentin des Deutschen Olympischen Sportbundes &
u.a. ehem. Leistungssportlerin im Langlauf und Biathlon (12x Gold bei den Paralympics und 4x Gold bei den Weltmeisterschaften) © Marlene Gawrisch

Quelle messe.rocks GmbH

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