Freitag, November 22, 2024
StartGründerTalkInsbesondere zu Beginn braucht es viel Flexibilität und Mut

Insbesondere zu Beginn braucht es viel Flexibilität und Mut

cancelled.ch Fluggastrechteplattform der Schweiz- hilft Fluggästen zu Ihrem Recht

Stellen Sie sich und cancelled kurz unseren Lesern vor!

Mein Name ist Simon Sommer, ich bin 29, Startup-Unternehmer und Fluggastrechtsjurist bei cancelled.ch, der ersten Fluggastrechteplattform der Schweiz. Sie ist zugleich das erste Baby von Anemis, einem LegalTech-Unternehmen, gegründet von zwei Informatikern (Sascha und Markus), einem weiteren Juristen (Edoardo) und mir. Als LegalTech-Unternehmen ist es unser Ziel, die juristische Tätigkeit effizienter auszugestalten, in Standardverfahren den nötigen menschlichen Arbeitseinsatz zu reduzieren und damit unter anderem die Kosten, die Dauer und nicht zuletzt die Fehleranfälligkeit zu senken. Als Langzeiteffekt versprechen wir uns hiervon, breiteren Schichten von Verbrauchern und Kleinunternehmern einen durchgängig bezahlbaren Zugang zu Rechtsdienstleistungen zu verschaffen.

Warum haben Sie sich entschieden ein Unternehmen zu gründen?

Ich war der Vorstellung, etwas Eigenes aufzubauen, nie abgelehnt und hatte in der Vergangenheit an verschiedenen Ideen rumgetüftelt. Die eigentliche Idee zu cancelled.ch entstand dann aber durch Zufall am Flughafen Wien, als ich via Berlin nach Chicago fliegen wollte. Bereits der Flug von Wien nach Berlin wurde annulliert. Nach einer mühseligen Reise kam ich zwar in Chicago an, jedoch ohne Gepäck. Da ich bereits damals über die Rechtslage Bescheid wusste, war mir bekannt, dass ich Anspruch auf eine Entschädigung habe. Ich trat daher mit der Airline in Kontakt.

Trotz eindeutiger rechtlicher Sachlage versuchte diese jedoch, sich der Verantwortung zu entziehen. Nach der Rückkehr traf ich meinen Studienfreund Edoardo in Luzern zu einem Kaffee und erzählte ihm von meinem Erlebnis bzw. von der Feststellung, dass die Verbraucher/-innen nur sehr schwer an ihr Recht kommen. Das brachte ihn auf die zündende Idee: Fluggäste sollen mit Hilfe eines modernen und benutzerfreundlichen, online-basierten Rechtsdienstleistungs-Tools an ihre Entschädigung kommen. Bestens traf sich daher, dass Edoardo zwei IT-Cracks (Sascha und Markus) kannte, mit welchen er bereits andere Projekte umgesetzt hatte. Er begeisterte die beiden für die Idee und holte sie mit ins Boot.

Welche Vision steckt hinter cancelled?

Viele Passagiere berichten uns, dass Airlines ihnen keine Ausgleichszahlungen leisten wollen, entweder werden sie mit Ausreden vertröstet oder ihnen wird erst gar nicht geantwortet. Wir wollen diesen Missstand respektive dieses Ungleichgewicht zwischen Passagier und Airline aufheben. Damit verfolgen wir den sogenannten Access-to-Justice-Ansatz, der besagt, dass jedermann eine Möglichkeit haben sollte, zu seinem/ihrem Recht zu kommen. 

Das LegalTech-Unternehmen Anemis wiederum verfolgt die Vision, Produkte wie cancelled.ch zu entwickeln, die dies ermöglichen – entweder, um von uns betrieben zu werden oder als Lizenzprodukt bspw. für Kanzleien oder Behörden.

Von der Idee bis zum Start was waren bis jetzt die größten Herausforderungen und wie haben Sie sich finanziert?

Die größte Herausforderung war zweifelsohne der Wechsel von der Zeit, als ich nebenbei noch einen „normalen“ Job hatte, zu jener Zeit, ab der ich mich ausschließlich dem Startup gewidmet habe. Dieser Wechsel gestaltete sich deshalb schwierig, weil ein Startup nicht von Beginn an in der Lage ist, regelmäßig genügend hohe Umsätze zu generieren, die für eine Vollanstellung erforderlich wären. Umgekehrt wäre einem aber insbesondere in dieser Zeit die vollständige Arbeitskraft abverlangt, damit möglichst schnell Wachstum erzielt werden kann, um diesen Punkt zu überwinden.

Für die Gründung des Unternehmens, eine GmbH nach schweizerischem Recht, waren total 20’000 Schweizer Franken notwendig. Hierfür haben die vier oben genannten Gründer je 5000 Schweizer Franken aufgewendet (zirka 4555 Euro). Seither sind wir in der glücklichen Lage, das Wachstum mit den laufend generierten Umsätzen voranzutreiben.

Wer ist die Zielgruppe von cancelled?

Die Zielgruppe von cancelled.ch umfasst all jene Personen, die eine Flugunregelmäßigkeit (Annullation, große Verspätung, Nichtbeförderung) hatten. 

Wie funktioniert cancelled? Wo liegen die Vorteile? Was unterscheidet Sie von anderen Anbietern?

cancelled.ch arbeitet wie seine Mitbewerber mit einer erfolgsabhängigen Provision. Sind unsere Juristen nicht in der Lage, eine Ausgleichszahlung zu erwirken, so entstehen dem Kunden/der Kundin keinerlei Kosten. Da wir jedoch mit fast allen Rechtsschutzversicherungen der Schweiz zusammenarbeiten, entstehen rechtsschutzversicherten Kunden/innen – dieser Anteil ist in der Schweiz vergleichsweise hoch – im Erfolgsfall ebenfalls keinerlei Kosten für unsere Dienstleistung, da unsere Provision durch die Versicherung übernommen wird.

Da sich die rechtliche Situation in der Schweiz zudem von jener in der EU unterscheidet, sehen wir uns in der Lage, sowohl Versicherungen als auch Privatpersonen juristisch präzisere Auskunft zu geben und Fälle entsprechend zu bearbeiten.

Wie ist das Feedback?

Die Zufriedenheit mit unserer Dienstleistung orientiert sich stark daran, ob unsere Juristen eine Ausgleichszahlung erwirken konnten. Es versteht sich von selbst, dass bspw. eine vierköpfige Familie, deren Langstreckenflug annulliert wurde, überaus happy ist, wenn ihnen dank unserer Hilfe 2400 Euro überwiesen werden. Umgekehrt kann die Enttäuschung groß sein, wenn eine Fluggesellschaft nichts bezahlen will bzw. muss (bspw. beim Vorliegen von Wetterturbulenzen) – und dies obschon der Passagier möglicherweise große Unannehmlichkeiten auf sich nehmen musste, evtl. einen Urlaubstag verloren hat, eine Beerdigung oder eine Hochzeit verpasst hat usw.

cancelled, wo geht der Weg hin? Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?

cancelled.ch wird die nächsten fünf Jahre weiterwachsen und verschiedene Aspekte weiter optimieren, insbesondere nochmalig von einem Effizienzgewinn durch neuentwickelte Systeme im Hintergrund profitieren. Juristisch wird sich die Situation aller Voraussicht nach zu unseren Gunsten entwickeln, weshalb wir mehr Arten von Flugunregelmäßigkeiten abdecken werden können.

Die Anemis wiederum wird in diesen Jahren weitere Produkte auf den Markt bringen. Dies führt dazu, dass das Unternehmen breit abgestützt sein wird und einen gewichtigen Beitrag für die Entwicklungen im LegalTech-Bereich beisteuern wird.

Zum Schluss: Welche 3 Tipps würden Sie angehenden Gründern mit auf den Weg geben?

Insbesondere zu Beginn braucht es viel Flexibilität und Mut. Nichts muss und kann perfekt sein. Die Bestrebungen, das Unternehmen und seine Strukturen stetig zu verbessern, reichen aus. Nach und nach wirst du feststellen, dass die bereits im Markt Etablierten auch nur mit Wasser kochen und dass sich gar (oder vor allem) Großunternehmen zuweilen ziemlich unausgereiften, manchmal gar sehr spartanischen, Mitteln und Prozessen bedienen. 

Vernachlässige niemals deine Work-Life-Balance. Dass man zu gewissen Zeiten beinahe Tag und Nacht durcharbeitet, kann es geben. Trotzdem sollten soziale Kontakte, Bewegung und Erholung niemals vernachlässigt werden. Dies würde, so meine Überzeugung, nämlich wiederum die Arbeitsfreude und somit die Kreativität aber auch die Effizienz einschränken.

Die Menschen hinter einem Unternehmen sind stets das Wichtigste. Ich würde neuen Gründer/innen raten, sehr präzise abzuwägen, mit welchen Mitmenschen man ein Unternehmen gründen möchte. Aus meiner Sicht ist eine hervorragende Harmonie auf lange Sicht unabdingbar, zudem sollten sich die einzelnen Charaktere gut ergänzen.

Weitere Informationen finden Sie hier

Wir bedanken uns bei Simon Sommer für das Interview

Aussagen des Autors und des Interviewpartners geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion und des Verlags wieder

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