OTIV entwickelt autonome Technologien für den Schienenverkehr und arbeitet daran, Bahnoperationen sicherer, effizienter und moderner zu gestalten
Wie würden Sie OTIV und das Team dahinter vorstellen?
OTIV ist ein belgisches Startup mit Hauptsitz in Gent und einem weiteren Standort in Köln. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, autonome Technologie in den Schienenverkehr zu bringen und diesen entscheidend zu modernisieren.
Unser Team besteht aus rund 40 ausgewiesenen Expertinnen und Experten für Bahnautomatisierung, die gemeinsam daran arbeiten, den Zug der Zukunft Realität werden zu lassen. OTIV wurde 2020 von Niels Van Damme und Sam De Smet gegründet und hat seitdem ein bemerkenswertes Wachstum hingelegt. Zuletzt wurden wir mit dem Deloitte Fast50 Award als am schnellsten wachsendes Scale-up Belgiens 2025 ausgezeichnet, und das in einer traditionell sehr anspruchsvollen Branche wie der Bahnindustrie.
Zu unseren Investoren gehören Pitchdrive, Miles Ahead, Finindus und SHIFT Invest – Partner, die unsere Vision teilen und unser Wachstum aktiv unterstützen.
Was war der Auslöser dafür, KI Assistenzsysteme speziell für den Schienenverkehr zu entwickeln?
Der Schienenverkehr ist das Rückgrat unseres Mobilitätssystems, sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr – oder zumindest sollte er das sein. Er ist ein zentraler Hebel für die Transformation hin zu nachhaltiger Mobilität. Dennoch schöpfen wir dieses Potenzial bei Weitem nicht aus: Der Modalanteil der Schiene sinkt sogar, anstatt zu steigen. Einer der Gründe liegt darin, dass Investitionen und Innovationen im Schienenverkehr seit Jahren hinterherhinken – im Vergleich zur Automobilindustrie um etwa 15 Jahre. Die notwendigen Schritte in Richtung autonomes Fahren werden nicht schnell genug umgesetzt. Wir sind überzeugt: Um seine Rolle als Rückgrat der Mobilität wieder einzunehmen, muss die Schiene konsequent automatisiert werden. Ein entscheidender Punkt ist dabei die Zertifizierung und Zulassung solcher Systeme. Genau hier setzen wir an und arbeiten mit den größten Playern der Branche zusammen, um europäische und globale Standards zu definieren und voranzutreiben.
Ihre Lösungen reichen vom Fahrerassistenzsystem bis hin zur Remote Steuerung. Wie greifen diese Bausteine zusammen, um Ihre Vision eines sichereren und effizienteren Bahnverkehrs zu erreichen?
Wir entwickeln gewissermaßen das „Gehirn des Zuges“ und bringen ihm bei, autonom zu fahren. Unsere gesamte Technologie basiert auf einem gemeinsamen Tech-Stack mit den zugrunde liegenden Algorithmen.
Gleichzeitig verfolgen wir einen klaren, realistischen Stufenplan, der bei Fahrerassistenzsystemen beginnt und über Teleoperation hin zur vollen Automatisierung führt. Jede Stufe baut auf der vorherigen auf. Jede zurückgelegte Strecke mit unseren Fahrerassistenzsystemen liefert neue Daten, macht unsere Algorithmen intelligenter und entwickelt das „Zuggehirn“ Schritt für Schritt weiter – bis hin zur vollautonomen Fahrt.
Für welche Betreiber oder Einsatzszenarien entwickeln Sie Ihre Technologie vorrangig und wie stellen Sie sicher, dass die Systeme den Bedürfnissen dieser Zielgruppen wirklich entsprechen?
Wir arbeiten mit drei Arten von Schienenfahrzeugen: Industrieanlagen, Straßenbahnen und Fernverkehrszüge. Gemeinsam mit den führenden Unternehmen der Branche definieren wir europäische und globale Standards inklusive Regulierung, Zertifizierung und Zulassung.
Industriestandorte wie Stahl- oder Chemiewerke sind abgeschlossene Systeme und werden am schnellsten den Schritt zur Vollautomatisierung machen. Dort sind bereits rund 80 % aller Prozesse automatisiert. Nun ist es Zeit, auch den Schienenverkehr ins 21. Jahrhundert zu holen. Zu unseren Kunden zählt u. a. ArcelorMittal.
Straßenbahnen in urbanen Räumen sind heute weitgehend ungeschützt unterwegs, während Autos längst Assistenzsysteme nutzen. Wir setzen unsere Systeme bereits in Städten wie Lissabon, Barcelona, Antwerpen, Utrecht, Rotterdam, Gent, Ostende und Zaragoza ein und arbeiten eng mit OEMs zusammen.
Gemeinsam mit DB Cargo realisieren wir das größte Bahnautomatisierungsprojekt Europas. Auf der Betuweroute in den Niederlanden testen wir ein Jahr lang unsere Teleoperations- und Vollautomationslösungen im echten Betrieb. Zu unseren Partnern gehören u. a. DB Cargo, HVLE, Dutch Railways, Lineas und SNCF.
Der Schienenverkehr gilt als komplexer und konservativer Markt. Welche Hürden begegnen Ihnen bei der Einführung neuer Technologien und wie gehen Sie damit um?
Drei Kernelemente stehen für uns im Fokus:
Schrittweises Vorgehen: Unsere Fahrerassistenzsysteme sind sofort für alle Betreiber relevant und liefern direkte Mehrwerte in Sicherheit und Effizienz – auch für Unternehmen, die Automatisierung zunächst skeptisch gegenüberstehen.
Zusammenarbeit mit Innovatoren: Wir arbeiten gezielt mit den Vorreitern der Branche, wie beispielsweise DB Cargo, CAF, ArcelorMittal, um gemeinsam globale Zertifizierungsstandards zu setzen.
Nachweisbare Zuverlässigkeit: Wir halten unsere Versprechen. Wir liefern zertifizierte, zuverlässige Technologie und wir liefern pünktlich.
Was macht OTIV im Vergleich zu klassischen Bahntechnik Anbietern besonders. Welche Aspekte Ihres Ansatzes sehen Sie als entscheidend für Ihren Vorsprung?
Drei Punkte zeichnen uns besonders aus: ein klar strukturierter, stufenweiser Weg zur Autonomie, ein extremer Fokus auf autonomes Fahren mit einem Team aus Weltklasse-Spezialisten und der Anspruch, Technologie aus dem Testbetrieb in den realen Einsatz zu bringen.
Wie verändert sich der Arbeitsalltag von Lokführern, Rangierpersonal oder Betriebsleitstellen durch Ihre Systeme.
Unsere Fahrerassistenzsysteme verändern die tägliche Arbeit nur moderat. Der größere Wandel entsteht durch Teleoperation und Automatisierung. Viele Betreiber finden heute schlicht nicht mehr genügend qualifizierte Lokführer und jüngere Generationen möchten den Beruf häufig nicht mehr in der klassischen Form ausüben. Wir bringen das Berufsbild ins 21. Jahrhundert: Ein Zugoperator kann künftig eine Flotte von fünf bis zehn autonomen Zügen überwachen und bei Bedarf über Remote-Steuerung eingreifen. Diese Kombination nennen wir überwachte Autonomie.
Ihre Sensor und Kameralösungen unterstützen besonders anspruchsvolle Umgebungen wie Rangierbahnhöfe. Welche Anforderungen stellen diese Bereiche an Ihre Technologie?
Zuverlässige Bahnsysteme erfordern Zertifizierung und Zulassung. Deshalb verfolgen wir einen schrittweisen Ansatz, der es uns ermöglicht, bereits heute zertifizierte Systeme in Betrieb zu nehmen.
Inwiefern sehen Sie langfristig Potenzial für autonome Schienenfahrzeuge und welche Schritte müssen dafür noch umgesetzt werden?
Das Potenzial ist enorm. Letztlich wird die Schiene denselben Weg gehen wie die Automobilindustrie. Was wir brauchen, ist ein weiterentwickelter regulatorischer Rahmen und ein Bewusstsein bei Betreibern, Infrastrukturmanagern und politischen Entscheidungsträgern, dass Automatisierung unausweichlich ist. Wir arbeiten deshalb bewusst in großen Leuchtturmprojekten, um europäische und globale Standards aktiv mitzugestalten. Klar ist: Wir brauchen die Schiene – und wir brauchen eine automatisierte Schiene, damit das System langfristig leistungsfähig bleibt.
Worauf können sich Ihre Kunden und Partner in den nächsten Jahren freuen. Welche Weiterentwicklungen planen Sie für Ihre Produktlinie?
2026 steht ganz im Zeichen der Umsetzung unserer kommerziellen Verträge und es werden einige Ankündigungen zu neuen Flotten folgen. Parallel arbeiten wir an der vollständigen Zertifizierung unserer Teleoperations- und Vollautomationssysteme. Dazu gehören auch weitere Testbetriebe.
Was würden Sie Gründerinnen und Gründern raten, die selbst ein technologieintensives Startup in einem regulierten Markt aufbauen möchten?
- Lassen Sie sich nicht entmutigen, auch wenn viele sagen, dass etwas nicht geht. Wenn Sie an Ihre Vision glauben, starten Sie damit durch.
- Priorisieren Sie von Beginn an Zertifizierung, Regulierung, Behörden und Kunden.
- Bauen Sie Vertrauen auf, indem Sie sich beweisen: Gehen Sie von der PowerPoint-Folie in den realen Einsatz und beweisen Sie gemeinsam mit führenden Kunden, dass Sie einen echten Mehrwert schaffen können.
Welche drei persönlichen Lehren aus Ihrem eigenen Gründungsweg halten Sie für besonders wertvoll für andere?
Neben den genannten Punkten habe ich drei zentrale Erkenntnisse gewonnen:
- Bauen Sie das richtige Team auf.
- Hören Sie auf die Kunden, denn die haben immer recht – man muss nur mit genügend davon sprechen, um die zu finden, die bereit sind, früh mitzugehen.
- Bauen Sie ein starkes Netzwerk aus Beratern, Board-Mitgliedern und Branchenkontakten auf.
Teambild Bildcredits OTIV
Wir bedanken uns bei den Gründern für das Interview
Aussagen des Autors und des Interviewpartners geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion und des Verlags wieder.
























