Estland gilt als das Start-up-Mekka schlechthin:
Inzwischen stammen zehn Jungunternehmen mit Milliardenbewertung aus dem kleinen baltischen Staat. Kein anderes Land Europas hat auf die Einwohnerzahl gesehen so eine hohe Unicorn-Dichte. Wie hat es dieses kleine Land – mit gerade mal knapp mehr als einer Million Einwohnern – geschafft, eine derartige Unicorn-Fabrik und einer der digitalen Vorreiter Europas zu werden? Und was kann Deutschland von diesem Beispiel lernen?
Die Entstehung eines Digitalstaates
Nach Estlands Unabhängigkeit 1991, der Privatisierung vieler staatlicher Betriebe und der Einführung einer liberalen Marktwirtschaft hat sich das Land komplett neu aufgestellt und von Anfang an auf digitale Lösungen gesetzt. Die geringe Bevölkerungsdichte von 1.3 Millionen Einwohner*innen auf einer Fläche so groß wie Niedersachsen haben diesen Prozess erleichtert. So konnte die Bevölkerung bereits in den 1990er Jahren auf die digitale Transformation vorbereitet werden und es entstand eine nationale Identifikation mit der Digitalisierung und der einhergehenden Innovations- und Wirtschaftskraft.
Digitalisierung von Land und Regierung
Seither wurden mit dem elektronischen Verwaltungssystem „E-Government” 99 Prozent aller Verwaltungsdienstleistungen digitalisiert. Das dezentrale Austausch- und Verwaltungssystem „X-Road” sorgt für den sicheren Datenaustausch zwischen allen relevanten Institutionen und den Bürger*innen. Das Herzstück von X-Road sind individuelle Keys. Jede Behörde, jeder Bürger, jedes Unternehmen hat einen digitalen Zwilling, eine einmalige ID, auch Bürgerkarte genannt. Sie ist gleichzeitig Ausweis, Führerschein, Versichertenkarte, Bibliotheksausweis, Steuernummer, Gesundheitskarte und mehr.
Zwei dieser Parteien können Daten innerhalb von X-Road über sichere Server austauschen, ohne dass ein Server eines Drittanbieters erforderlich ist. Dabei steht die Datenhoheit immer im Vordergrund und bleibt stets bei den Bürger*innen: Sie entscheiden, welche Daten freigegeben werden und können jeden staatlichen Zugriff einsehen.
2014 initiiert Estland das E-Residency Programm, eine länderübergreifende digitale Identität, die es, unabhängig von der Staatsangehörigkeit, jedem Menschen ermöglicht, die estnischen e-Services in Anspruch zu nehmen. Dazu gehört zum Beispiel die unbürokratische Gründung einer Firma, welche in durchschnittlich 18 Minuten erledigt ist, eine elektronische ID und eine digitale Staatsbürgerschaft. Die weltweite Bereitstellung dieser vereinfachten digitalen Services sind ausschlaggebend für die aufstrebende estnische Start-up Kultur, welche viele ausländische Talente – und damit Unternehmensideen – anlockt.
Lebhafte Start-up Community
Auch estnische Start-ups stehen in Konkurrenz, suchen aber aktiv das Miteinander und helfen sich mittels verschiedener Initiativen. Die estnische Start-up Community trifft sich regelmäßig und tritt unter anderem in sogenannten „Coopetion”-Wettbewerben gegeneinander an, von denen alle dank des konstruktiven Austauschs profitieren. Als Beispiel kann hier “sTARTUp Pitching” genannt werden, ein Wettbewerb im Rahmen des estnischen Business Festivals “sTARTUp Days”. Außenstehenden lernen so die Gesamtheit des estnischen Start-up Ökosystems dank neuer Sichtweisen und Ideen fördern. Gefördert werden solche Vorhaben vor allem von der Regierungsinitaitive Startup Estonia.
Der Erfolg von estnischen Vorzeige-Start-ups soll als Vorbild dienen, um den Wandel von einmaligen Erfolgen hin zu einem vollwertigen Start-up-Ökosystem zu unterstützen. Um Zusammenarbeit und Networking zu fördern, arbeitet Startup Estonia mit Start-ups, Inkubatoren, Acceleratoren und dem privaten und öffentlichen Sektor zusammen. Kurzum: Estland achtet penibel darauf, alle Expert*innen in der Entscheidungsfindung, beispielsweise bei der Planung eines regionalen Förderprogramms, zu Wort kommen zu lassen. So wird von Beginn an sichergestellt, dass alle Blickwinkel – von Regularien über Technologie bis Investitionen – die nötige Beachtung finden.
Arbeitskultur
Einer der auffälligsten Unterschiede zwischen Deutschland und Estland ist der enorme Größenunterschied der beiden potenziellen Märkte. In der Folge sind estnische Unternehmen von Beginn an stark international ausgerichtet. Zudem hat Remote Work einen lange etablierten, großen Stellenwert. Aufgrund der Größe Estlands ist der Talent Pool nun mal begrenzt und es können nicht alle aus einem Ort arbeiten. Um hier erfolgreich zu sein, müssen sich Unternehmen schnell an die neuen Arbeitsweisen anpassen. Neben den flachen Hierarchien und dem hybriden Arbeitsmodell überzeugt Estland durch eine inklusive Arbeitskultur.
Bei Pipedrive können beispielsweise alle Angestellten am sogenannten „Pitching Tuesday” ihre Ideen vorstellen. Wenn eine Idee vom Team für gut empfunden wird, darf der/die Ideengebende als Lead das Projekt umsetzen – egal, welche Position er/sie im Unternehmen innehat. Flexible Arbeitsmodelle und die Möglichkeit, den Arbeitsplatz selbst auszusuchen, sind bei Pipedrive seit jeher in der Unternehmenskultur verankert. Dadurch wurden früh die Weichen gestellt, um internationale Expert*innen anzulocken, potenzielle Führungskräfte zu trainieren und hoch qualifizierte Mitarbeiter*innen langfristig zu halten.
Bildung
Im Digitalunterricht nimmt Estland eine absolute Vorreiterrolle ein: Mit der bereits erwähnten digitalen Transformation Mitte der 1990er Jahre wurden innerhalb von fünf Jahren alle estnischen Schulen mit einem Internetzugang und Computern ausgestattet.
Bereits im Kindergarten kommen die Jungen und Mädchen mit Robotik-Projekten in Berührung, Technologie-Fächer wie Programmieren stehen ab der ersten Klasse auf dem Lehrplan. Anstatt das Smartphone zu verbieten, wird es aktiv für den Unterricht genutzt. Der Schulalltag wird hauptsächlich über eine Online-Plattform organisiert, die von fast allen Lehrer*innen, Schüler*innen und Eltern genutzt wird. Somit kommen estnische Schüler*innen schon viel früher mit Digitalisierung und den entsprechenden Tools in Berührung, sind laut OECD überdurchschnittlich gut in Mathematik und Wissenschaft ausgebildet. Gefragte Skills werden früh gefördert und eine optimale Vorbereitung für den immer digitaler werdenden Arbeitsmarkt gewährleistet. Auch für die deutsche Wirtschaft ist frühzeitige Bildung in puncto Digitalisierung, Technologie und Entrepreneurship unabdingbar. Doch gerade hierzulande ist das Gefälle in Sachen digitaler Bildung teilweise enorm, das belegt eine Studie der Universität Göttingen.
Was kann Deutschland tun?
Estland ist zweifelsfrei ein digitaler Vorzeigestaat. Nicht wenige Menschen würden sich diesen Fortschritt auch für Deutschland wünschen, nur gibt es einige Barrieren. Deutschlands Einwohnerzahl übersteigt Estlands um den Faktor 63; daher wäre es deutlich schwieriger, einen Großteil der Bevölkerung von einem Digitalstaat und offenem Datenverkehr zu überzeugen. Strukturen deutscher Institutionen und Verwaltungen müssen angepasst werden, sind im Vergleich zu Estland jedoch deutlich behäbiger, größer und unübersichtlicher.
Es braucht politischen Wille und Mut, Innovation und Offenheit: Gründer*innen brauchen eine größere politische Lobby, Venture Capital muss auch in späteren Phasen einfacher erhältlich sein, die Verknüpfungen zwischen Forschung und (Startup-)Wirtschaft verstärkt und mehr Menschen mit Migrationshintergrund die Möglichkeit zu gründen eröffnet werden. Das Potenzial in Deutschland besteht: Das Land ist die führende Wirtschaftskraft in Europa, warum nicht auch bald führend im Bereich E-Government?
Autor
Agur Jõgi ist Chief Technology Officer bei Pipedrive. Er verfügt über weitreichende Erfahrungen auf Führungsebenen in den Bereichen IT, Banking und Telekommunikation, wo er unter anderem als CIO, CTO und COO tätig war. Bei Pipedrive betreut Agur die Technologieteams und ist verantwortlich für Wachstum und Innovation.
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