Der Erfolg vieler Startups basiert oft nicht nur auf einer herausragenden Produktidee, sondern zu nicht unerheblichem Teil auch auf dem Team der ersten Stunde: Aufgrund der gemeinsam entwickelten und gelebten Unternehmenskultur und -philosophie ziehen alle an einem Strang, das Ziel ist klar definiert, die Strukturen und Verantwortungsbereiche sind wegen der wenigen Mitarbeitenden für alle nachvollziehbar. Entstehen interne Probleme werden sie meist auf kurzem Dienstweg gelöst.
Setzt dann aber das gewünschte exponentielle Unternehmenswachstum ein und die Anzahl der Mitarbeitenden skaliert in die Hunderte, gehen damit schnell kulturelle Herausforderungen einher: Wie stellt die Führungsriege sicher, dass alle Angestellten die Firmenwerte internalisieren und diese sich in den internen und externen Prozessen widerspiegeln? Wie gelingt es, der Vielfalt der wachsenden Belegschaft ausreichend Sichtbarkeit zu verleihen und jeder angestellten Person den benötigten Platz zur Entfaltung zu geben? Wie gehen Betriebe einheitlich und fair mit internen Konflikten um, welche disziplinarischen Maßnahmen sind zu welchem Zeitpunkt in Betracht zu ziehen?
Erfolgreiches Wachstum benötigt für alle geltende Richtlinien
Startups die erwarten, dass sich all das spontan und individuell handhaben bzw. lösen lässt, laufen Gefahr, von internen, durch Missverständnisse und fehlender Transparenz hervorgerufenen Unstimmigkeiten überrollt zu werden. Eine Option, für Struktur und Klarheit zu sorgen, ist die Einführung eines Verhaltenskodex. Dieses Regelwerk genießt in agilen Branchen oft den Ruf eines verklausulierten und in der Theorie verstaubenden Monstrums. Dennoch kann dieses Format zielführend genutzt werden, um Diversität zu fördern und eine Kultur des Respekts und der Zugehörigkeit zu etablieren. Denn damit jede:r einzelne Mitarbeitende weiß, wohin die Reise geht, benötigt es transparente und für alle, unabhängig vom jeweiligen Jobtitel geltende Leitlinien, die keine Hierarchien kennen. Durch diesen demokratischen Ansatz wird die Akzeptanz deutlich erhöht.
Die Erkenntnis, dass ein Verhaltenskodex dazu beitragen kann, die gegenseitigen Erwartungen besser zu formulieren und zu verstehen, ist ein wichtiger Schritt. Es kann jedoch eine Herausforderung sein, zu verstehen, was unter diese Standards fällt und wie das Regelwerk erstellt werden sollte, damit sie Relevanz für das Unternehmen erhalten.
Ohne ausreichende Ressourcen kein zielführender Verhaltenskodex
Einer der größten Fehler, den ein Unternehmen machen kann, ist es diesen Prozess zu hastig zu durchlaufen und Ressourcen sparen zu wollen. Wer in kürzester Zeit einen Kodex zusammenschustert ohne den Ist-Zustand und die bestehende Kultur zu reflektieren – am besten noch von wenigen Personen aus der höchsten Managementebene – wird nach kurzer Zeit realisieren, dass diese Top-Down-Herangehensweise auf wenig bis gar keine Gegenliebe bei den Mitarbeitenden stoßen wird.
Es ist riskant, einer Person oder einer Gruppe von Fachexpert:innen die Aufgabe zu übertragen, ein solch zentrales und komplexes Regelwerk für ein Unternehmen aufzustellen. Vielmehr braucht es die Expert:innen-Insights zu den verschiedenen Aspekten, Erwartungen des Managements und die Perspektive der Mitarbeitenden, um am Ende einen Code of Conduct zu erhalten, der tatsächlich praxistauglich ist. Ko-Kreation lautet hier der Schlüssel zum Erfolg.
Es ist essentiell den Erarbeitungsprozess ergebnisoffen und unvoreingenommen zu gestalten: Zweifellos werden Themengebiete aufkommen, an denen konträre Meinungen und Vorstellungen von verschiedenen Stakeholdern aufeinandertreffen, bevor der Kopf allerdings in den Sand gesteckt wird, ist es sinnvoll für alle aufkommenden Diskrepanzen Win-Win Lösungen zu finden. Ein Beispiel hierfür kann sein, wie man mit Fehlverhalten und Normverstößen von Mitarbeitenden umgeht: Das Spektrum reicht von einem Zero-Tolerance-Ansatz bis zu Konzepten, bei denen zunächst die Beweggründe eruiert werden, bevor irgendwelche disziplinarischen Schritte eingeleitet werden. Eine Lösungsmöglichkeit könnte in dem Fall sein, Normverstöße als mögliche Normverstöße zu behandeln – dadurch findet keine Vorverurteilung statt, bevor der Sachverhalt nicht ausreichend untersucht wurde, aber das potentielle Opfer wird ebenso geschützt und erhält umgehend die Rückmeldung, mit der Beschwerde ernst genommen zu werden.
Die Überführung vom Papier in die Praxis ist elementar
Von nicht minderer Bedeutung ist die Ausformulierung der erarbeitenden Normen. Es gilt herauszufinden, wie kurz und kompakt der Verhaltenskodex einerseits sein sollte und wie umfangreich und detailliert er dabei sein muss. Die Mitarbeitenden dürfen weder von einer endlosen Bleiwüste erschlagen und überfordert werden, noch sollten beim Lesen mehr Fragen als Antworten aufkommen. Auch sollte darauf geachtet werden, eine verständliche, präzise und eben nicht hochgradig juristische und bürokratische Sprache zu verwenden. Die Einbindung von Grafiken sorgt zudem für Auflockerung und einen angenehmeren Lesefluss. Nur wenn man all diese Aspekte beachtet, gelingt es, die verfassten Inhalte vom Papier in die tagtägliche Praxis der Mitarbeitenden zu überführen.
Die Einführung des Verhaltenskodex für die bestehende Belegschaft sollte am besten in Form eines gesonderten Events stattfinden, damit zum einen ausreichend Raum und Zeit vorhanden ist, die Beweggründe transparent zu vermitteln und zum anderen von Anfang an die Bedeutung dieses Dokuments deutlich wird. Ebenso muss die Vorstellung des Kodex Bestandteil des Onboarding-Prozesses für alle neuen Mitarbeitenden sein. Außerdem sollte es dezidierte Ansprechpersonen geben, an die sich alle Angestellten wenden können, sollte es zu Unklarheiten und Rückfragen kommen.
In der Regel werden die in einem Verhaltenskodex definierten Standards von Fachleuten erstellt – die typische Zielgruppe sind jedoch Mitarbeitende, die nicht über die Expertise dieser Fachleute verfügen.
Es muss daher sichergestellt werden, dass der Kodex die potentiellen Fragen genau dieser Angestellten beantwortet. Eine Lösung für diese Herausforderung kann darin bestehen, in Workshops Mitarbeitende aus dem gesamten Unternehmen zu bitten, auf die Standards bezogene Fragen zu stellen und zu prüfen, ob sie Verhaltenskodex-Einträge finden, die diese Fragen beantworten, um gegebenenfalls Anpassungen vorzunehmen. Für diejenigen Mitarbeiter, die bestimmte Elemente des Kodex täglich verwenden, sollten klare Lösungen vereinbart werden, wo sie weitere Anleitungen zu ihren Fragen finden können, falls bestimmte Aspekte nicht im Verhaltenskodex ausgeführt wurden.
Gerade schnell skalierende Startups müssen verstehen, dass ein gemeinschaftlich und holistisch erarbeiteter Verhaltenskodex nicht nur das Potential bietet, die elementar für den Geschäftserfolg verantwortlichen Unternehmenswerte dauerhaft und umfassend zu etablieren. Ein solcher Kodex schafft auch den Grundstein für den persönlichen Erfolg aller Mitarbeitenden: Nur wer sich mit den Wertvorstellungen eines Unternehmens identifizieren kann, sich wirklich sicher fühlt und sein wahres Ich am Arbeitsplatz entfalten kann, entwickelt langfristig eine Beziehung des Vertrauens und der Zugehörigkeit zum Unternehmen und den Kolleg:innen. Im Endeffekt ist es nämlich wie folgt: Diese Form der Identifikation mit dem Unternehmen und dessen Zielen kann nur mithilfe durchdachter Strukturen erzeugt werden – und nicht mit Kickertisch und Feierabendrinks.
Autorin:
Monika Kalinauskaitė ist Senior Strategic Initiatives Manager bei Vinted, Europas größter C2C-Online-Plattform für secondhand Mode (mittlerweile mehr als 1.000 Mitarbeitende in fünf Offices in Vilnius, Berlin, Amsterdam, Utrecht, Prag). Im Entwicklungsprozess des Verhaltenskodex hatte sie eine zentrale Rolle.
Fotocredit Vinted
Aussagen des Autors und des Interviewpartners geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion und des Verlags wieder